Afrikaner und ihr Leiden an der Vergangenheit

(Artikel in der afrikanischen Zeitschrift Harambee 2/1995:  S. 8-13).

Erwin Ebermann[1]

Afrika war in den letzten Jahrhunderten ein sehr leidgeprüfter Kontinent. Der Sklavenhandel kostete Afrika mit all seinen Begleitumständen (Gefangennahme, Transport etc.) bis zu 80 Millionen Menschenleben und hinterließ als Erbe schwere Selbstzweifel, wurde anfangs doch sogar bezweifelt, ob Afrikaner vollwertige Menschen seien, ob sie überhaupt eine Seele hätten. Der Kolonialismus verstärkte diese Selbstzweifel und schuf darüber hinaus eine Reihe struktureller Abhängigkeiten.

Afrika ist auch ein sehr reisefreundlicher Kontinent. Als Weißer wird man überaus freundlich aufgenommen[2], sehr zuvorkommend behandelt und genießt darüber hinaus noch den Vorteil, daß man nach der Rückkehr für einen Abenteurer gehalten wird, weil es längst nicht alle Europäer für denkbar halten, daß der Umgang mit dem Andern in Afrika zumindest genauso zivilisiert abläuft wie bei uns.

Man wird zuvorkommend behandelt: Bei Festen wurden mir stets die besten Plätze angeboten; bemüht man sich ein wenig, lokale Sprachen zu sprechen, vergelten es einem die Leute mit enormer Herzlichkeit und Anerkennung, sogar ein Minister der Côte-d’Ivoire besuchte mich in einem entlegenen Dorf, weil er nicht glauben konnte, daß ich seine Muttersprache wirklich spräche; lebt man in einfachen Dörfern, wird es einem mit Besuchen von früh bis spät gedankt, weil jeder den verrückten Europäer sehen will, der nicht abgehoben lebt… Nahezu jeder will ihn einladen, nahezu jeder sein Freund sein. Für junge Menschen liegt in derartigen Aufmerksamkeiten eine ungeheure Gefahr: sie können leicht dazu neigen, sich zu überschätzen. Man bekommt das Gefühl, ein Star zu sein, wichtig zu sein. Vielleicht ist gerade dieses Gefühl der persönlichen Aufwertung für viele Afrika-Fans einer der wesentlichen Gründe für ihre Zuneigung zu diesem Kontinent.

Auch für mich war es anfangs so. Ich bekam in Afrika bei meinen ersten Reisen das Selbstvertrauen und die Zuwendung, die mir damals in unserer Gesellschaft mangelten. Es ist zweifellos sehr angenehm, um einen (hohen) Status nicht kämpfen zu müssen. Grenze Côte-d’Ivoire/ Ghana 1980: Von Ghana kommend, ersuchte ich den Zöllner, mir Francs in CFA zu wechseln. Er fragte mich, was ich haben wollte, ich sagte ihm: Orangen. Daraufhin nahm er einer einheimischen Marktfrau den Orangenkorb weg, ohne ihn zu bezahlen, und reichte ihn mir als Geschenk. Das Zeichen meiner Wertschätzung war direkt verbunden der Mißachtung der armen Frau (eines anderen Volkes, ich lehnte das „Geschenk“ übrigens ab). Zunehmend wurde ich hellhöriger und -sichtiger für die unterschiedliche Behandlung von Menschen. Während ich bei Festen in der ersten Reihe saß, saßen ältere Reisende (ebenfalls Gäste, aber Afrikaner) unbequemer und weiter hinten; wollten Polizisten und Soldaten bei den häufigen Fahrzeugkontrollen die Passagiere mit windigen Argumenten um ihre kargen Ersparnisse bringen, wurde ich merkwürdigerweise fast immer als einziger nicht belästigt; während ich in der Stadt oft nach kurzer Bekanntschaft zum Essen oder über Nacht eingeladen wurde, wurden ärmlicher gekleidete Afrikaner schlechter abgespeist, bestenfalls mit einigen wenig wertvollen Münzen. Kenia, Mali, Côte-d’Ivoire, Togo, peu importe…. Man erkennt immer mehr, daß die Menschen nicht nur deshalb so einladend sind, weil man ein klasser Mensch ist, sondern weil man weiß ist, weil man (meist zutreffend) als wesentlich reicher eingeschätzt wird, weil man vielleicht Hoffnung gibt…

Nach einiger Zeit in afrikanischen Gesellschaften beginnt man zunehmend unter den Verhaltensweisen zu leiden, die man vorher noch benötigte. Man erkennt zusehends, wie die übertriebene Achtung des Europäers und des Europäischen ein wesentlicher Bestandteil der afrikanischen Probleme ist; auch wenn nicht jeder so pessimistisch ist, wie viele Menschen unter den Kelinga-Bozo, einem Volk bei Macina in Mali, wo ich bei Forschungen Aussagen wie diese häufig und deutlich hörte:

„Die Weißen sind uns in allen Bereichen überlegen. Wir werden nie tun können, was sie tun.“

Das ist eine glatte geistige Kapitulation. Wer so denkt, hat beste Chancen, von den Europäern abhängig zu bleiben. Sicherlich ist diese Aussage auch für Afrika extrem. Häufiger sind subtile Formen der Kapitulation: Wird bei den Mauka an der Côte-d’Ivoire eine Tomate besonders groß und schön, wird sie nicht „tàmata“, sondern „twàabu-tàmata“ (europäische Tomate) genannt. Das besonders Gelungene kann also „europäisch“ genannt werden. Ist es dann verwunderlich, wenn vorwiegend westliche Lebensweisen als erstrebenswert gelten, wenn sich z.B. die Côte-d’Ivoire offensichtlich besonders stark bemühte, die Europäer auf europäischen Spuren zu überholen? Da wurde dieses nicht sonderlich reiche Land mit Mühe davon abgehalten, die größte Kathedrale der Welt an einem menschenleeren Ort (Yamoussoukro) zu errichten (sie wurde nur die zweitgrößte, 1m kürzer als der Petersdom); da findet sich in Abidjan der einzige Eislaufplatz Afrikas; da wird in der Fernsehwerbung für Maggi-Suppenwürfel von westlich gekleideten Menschen mit afrikanischen Gesichtern betont, daß sie Maggi deshalb genößen, weil sie „zivilisiert seien“; da weigern sich viele Minister, in dieser Region von oft 90%iger Luftfeuchtigkeit, krawattenlose Besucher zu empfangen usw. Katastrophale Auswirkungen auf einheimische Wirtschaftszweige, man braucht importierte, viel Strom verbrauchende Klimaanlagen; einheimische Textilbranchen gehen zugrunde usw. Gewiß folgten oder folgen längst nicht alle Länder so stark dem europäischen Weg. Neben Ländern mit weitgehender kultureller Selbstaufgabe wie der Côte-d’Ivoire oder Kenya stehen auch innersahelianische Länder wie Mali, Burkinafaso, Niger, Sudan, wo die Menschen wesentlich mehr Stolz auf die eigene Kultur zeigen. Dennoch ist es kaum wo von Nachteil, Europäer oder ein europäisches Produkt zu sein… Sklaverei und Kolonialismus verursachten nachhaltig die Abnahme des Vertrauens vieler Afrikaner in die eigene Leistungsfähigkeit und den Selbstwert, Ergebnis war der sog. „kolonialisierte Geist“ (Fanon).

Änderte die Unabhängigkeit nichts daran? Vielleicht vorübergehend.. Nach der Anfangseuphorie nach der Erlangung der Unabhängigkeit stellte sich spätestens in den 70er-Jahren, bedingt durch aufkommende wirtschaftliche Krisen, vielerorts Ernüchterung über zum Teil unfähige, zum Teil korrupte, zum Teil unerfahrene, zum Teil glücklose Politiker ein. Das Versagen eines guten Teils der lokalen Eliten führte mancherorts zur Glorifizierung der Weißen. Es entstand oft so etwas wie eine Europa-Nostalgie, die durch keinerlei Erfahrungen der Kolonialzeit gerechtfertigt war. Bei einer Studie in Mali 1991 in einem Bambaradorf antworteten 3 von 64 Befragten, daß die Regierung bemüht sei, ihnen aus ihrer Not zu helfen; hingegen sagten alle 64, daß die Weißen bemüht seien, ihnen zu helfen.

Afrika in Europa, afrikarelevante Veranstaltungen im Afro-Asiatischen Institut Wien und anderswo; rege Teilnahme oft hochqualifizierter Afrikaner, belebte und hochstehende Diskussionen… Und obwohl in ganz anderer Form geäußert, häufig wieder Erinnerungen an diesen in Afrika oft so stark wahrgenommenen Mangel an Glauben an sich selbst, an das ständige Messen an europäischen Maßstäben für eigene Handlungen. Sie zeigen sich in sehr unterschiedlichen Formen:

a. Das Gefühl der Machtlosigkeit bzw. des konstanten Fremdverschuldens

Viele Afrikaner neigen dazu, ständig Bestätigung dafür zu suchen, daß sie nicht Erfolg haben können, als müßten sie sich immer wieder von neuem bestätigen, daß sie nicht liebenswert, nicht gleichwertig seien. Manche führen nahezu alles, was ihnen widerfährt, auf ihre afrikanische Identität zurück. Spricht ein Afrikaner eine Frau an, häufig auf eine für diese ungewohnte Art, und wird deshalb zurückgewiesen, so hört sie mitunter den Vorwurf des Rassismus. Afrikaner beziehen wesentlich mehr Stipendien am AAI, als ihrer Bewerberzahl entspräche (1994: 13% der Bewerber, 35% der Bewilligten), dennoch beschweren sich des öfteren afrikanische Nichtausgewählte, daß sie nicht genommen wurden, weil sie Afrikaner seien. In einer Diskussion mit zahlreichen Wortmeldungen wird ein afrikanischer Diskutant nach seinem dritten Diskussionsbeitrag ersucht, andere (Afrikaner) ebenfalls zu Wort kommen zu lassen; sein Sitznachbar protestiert und führt den Wunsch, daß ein einzelner Gast nicht die Diskussion monopolisiert, als Beweis für rassistische und afrikanerfeindliche Einstellung an. Der Mangel an Investitionen in Afrika wird nicht auf infrastrukturelle Mängel und vergleichbare Defizite zurückgeführt, sondern auf Rassismus. Die Führungsschwäche vieler Staaten wird damit begründet, daß der Westen jeden kompeteten afrikanischen Staatsmann zu Fall bringe. Gewiß reagieren bei weitem nicht alle Afrikaner so. Aber es handelt sich dabei weitgehend um Aussagen, die eher von Afrikanern als von anderen getätigt werden; Aussagen, die bei fernostbezogenen Veranstaltungen kaum vorkommen. Menschen aus jenem Raum scheinen kaum eine Tendenz zu zeigen, Scheitern bei Vorhaben auf ihre Herkunft zurückzuführen. Aus ihren Reihen ist mitunter Kritik an der afrikanischen Empfindlichkeit zu hören, daß Afrikaner besonders häufig die Schuld bei Anderen suchen.

Vor einiger Zeit organisierte ich ein Seminar für Afrikaner, zu dem ich zwei europäische Experten einlud. Beide werden in ihren Ländern durch ihr engagiertes Eintreten für die Interessen der „Dritten Welt“ angefeindet. Im Seminar zeigte der Erste vorwiegend auf, wo Afrika gegebene Chancen nicht nützte, wo es also Handlungsmöglichkeiten gäbe, während der Zweite die Schuld an nahezu jeglichem Scheitern immer dem Westen gab. Dabei fiel u.a. die Aussage, daß man bei unfähigen Staatsmännern in Afrika eigentlich nur nachzuforschen brauche, welches westliche Land sie eingesetzt habe. Bei der nach dem Seminarende durchgeführten Evaluierung schnitt die Person wesentlich besser ab, die Afrikaner von jeglicher Mitverantwortung an ihrer Situation freisprach. Ich fand dies persönlich enttäuschend, weil ich das Gefühl hatte, daß sich die schlechter beurteilte Person wirklich bemühte, kritisch, aber mit viel Engagement Hoffnung zu geben; die Afrikaner schienen aber überwiegend den Meinungen zuzustimmen, welche ihnen alle Möglichkeiten verschlossen. Sie schienen es notwendiger zu haben, daß sie von jeder Mitverantwortung freigesprochen wurden. In dieser Einstellung liegt wahrscheinlich aber auch ein Element der self-fullfilling prophecy: Man wird auch bei zukünftigen Vorhaben eher annehmen, daß sie wegen eines fremden Eingreifens nicht gelingen werden und nimmt sie deshalb mit weniger Engagement und Überzeugung in Angriff, was das Scheitern impliziert.

Es stellt sich die Frage, ob das häufige Betrauern des nicht eigenverantwortlichen Scheiterns nicht auch gleichzeitig wiederum die nächste Generation von Afrikanern in einer Weise prägt, daß sie das Gefühl haben, nicht Meister ihres Schicksals zu sein. Der ständige Hinweis auf das Scheitern afrikanischer Initiativen durch westliche Einflüsse wirkt wahrscheinlich fatalisierend. Viele junge Afrikaner könnten im Gefühl aufwachsen, daß Engagement sowieso nichts nützt, weil letzten Endes doch alles von den Europäern abhängt. Auch dies ist ein Beitrag zur geistigen Kapitulation.

Wer sich für machtlos hält, muß, um das Gefühl der Selbstabwertung zu minimieren, möglicherweise verstärkt Klischeevorstellungen prägen, die begründen, warum er machtlos ist. Täte er dies nicht, würde er jedes Scheitern als persönliche Abwertung empfinden.

b. Die neue-alte Klischeebildung vom „Edlen Afrikaner“:

Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bestimmt leider wesentlich die Wertschätzung anderer Kulturen, selbst wenn der Fototourismus vielen Menschen die Kulturdenkmäler des Südens näherbringt. Dem einfachen Ägypter in Österreich nützt es wenig, daß Ägypten in vielem eine kulturelle Wiege der Menschheit war: Er wird behandelt wie ein Mensch aus einem armen Land, wie ein Armer, nicht ganz Vollwertiger. Ein Amerikaner hingegen, mit weniger großer alter Geschichte, wird mit ungleich größerem Respekt behandelt; er dominiert in wirtschaftlichen Belangen, er ist ein interessanter Partner.

Afrikaner werden bei uns oft so behandelt, wie es der Schwäche ihrer Ökonomien entspricht, mitunter noch schlechter. Häufig geht das Wissen um die wirtschaftliche Schwäche einer Region mit dem Vorurteil einher, daß die Menschen der betreffenden Region auch intellektuell unterlegen, nicht leistungswillig oder -fähig seien. Afrikaner reagieren auf solche Klischees oft mit Gegenklischees. Die afrikanerbezogenen Klischees haben oft mit der Unterschätzung ihrer geistigen Fähigkeiten zu tun, die häufig von Afrikanern hervorgebrachten Klischees unterstellen als Antwort Europäern Handlungen bzw. Einstellungen, welche es dem Afrikaner unmöglich machen, hier oder in Afrika zu bestehen:

  Europa Afrika
Gastfreundschaft nicht vorhanden unbeschränkt
Korruption Teil des Systems oft als vom Westen eingeführte Unsitte abgetan
Einstellung zur Natur zerstörerisch in Einklang mit der Natur; Naturzerstörung in Afrika durch westliche Einflüsse
Umgang mit Fremden, Ethnozentrismus intolerant, xenophobisch tolerant, ethnische Spannungen in Afrika durch externe Einflüsse ausgelöst
unverantwortliche, mörderische Staatschefs vorkommend vom Westen eingesetzt und gestützt

Die oben angeführten Vergleiche werden oft als ewiggültig angesehen, so als gäbe es keine Beeinflussung des Menschen durch die Veränderung seiner Lebenszustände.

Zu jedem dieser Punkte könnte man zahlreiche Beispiele aus Diskussionsbeiträgen zitieren. Das für mich vielleicht erschreckendste war die durch einen Ruandesen anläßlich einer Diskussion über den Genozid in Ruanda geäußerte kritikhafte Frage, was das AAI denn zu tun gedenke (nicht etwa gegen das Gemetzel, sondern für eine freundlichere Berichterstattung in den Massenmedien über die Massenmorde). Selbst in dieser dramatischen Situation erschien es dem ruandesischen Fragesteller klar zu sein, daß das wahre Böse in Europa, nämlich in der Berichterstattung, schlummere. Aber dieser Beitrag war in seiner Radikalität absolut einmalig und kann nicht zur Verallgemeinerung dienen.

Überall in der Welt steigt die  Korruption an, wenn Kontrollmechanismen wie von Seiten des Staates, von Seiten der Medien etc. nicht funktionieren; in Afrika stecken die Weißen dahinter…

Überall in der Welt wachsen die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft, wenn es im Zuge einer Wirtschaftskrise zu erhöhten Verteilungskämpfen kommt; in Afrika hingegen deutet man ethnische Konflikte als von außen geschürt… Während etwa die Morde an den Sinti und Roma richtigerweise als klare rassistische Akte beurteilt werden, nimmt man oft vergleichsweise an, daß die ethnischen Konflikte in Ruanda/Burundi ein rein europäisches Konstrukt sind;

Überall in der Welt tauchen periodisch korrupte, in Phasen großer sozialer Not mitunter sogar mörderische Staatschefs auf, wie Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot; in Afrika wird ihr Erscheinen mit dem Einfluß der Europäer begründet, die sie direkt eingesetzt hätten …

Da wird der korrupte und brutale Staatschef Zaires Mobutu so behandelt, als wenn er ein reiner Spielball in den Händen der Weißen wäre, ohne daß berücksichtigt wird, wie politisch ungeheuer geschickt er die weißen Mächte gegeneinander ausspielt…

Sozioökonomische Betrachtungen können auch vieles im Bereich von Gastfreundschaft[3] und Fremdenfeindlichkeit[4] erklären.

Genug der Vergleiche, die Vergleichbarkeit zeigen sollten… Mir erscheint es naheliegend, Afrikaner wie alle anderen Menschen zu betrachten, was bedeutet, daß sie ähnliche Regungen, Reaktionen, Wünsche, Sehnsüchte wie Andere zeigen, wenn auch von der Tarnkappe der Kultur überzogen; daß sie vergleichbar auf sozioökonomische Rahmenbedingungen und deren Veränderung reagieren… Das bedeutet aber auch, daß sie wie Weiße zum Guten wie zum Bösen, zum Gelingen wie zum Scheitern, imstande sind. Dies klingt selbstverständlich, ist es aber für viele nicht, die entweder Afrikaner sind oder mit Afrikanern sympathisieren. Die häufig geäußerte Meinung, daß jedes Problem Afrikas von außen hineingetragen wird, ist einer Entmündigung des Kontinents und seiner Menschen gleichzusetzen. In derartigen Aussagen steckt der Gedanke, daß Afrika Geschichte nur erleidet, aber nicht prägt. Man setzt Afrikaner förmlich auf die Ebene von schuldlosen Kindern, die man vor anderen bösen Erwachsenen schützen muß. Dieses Klischee hat viel mit dem des „Edlen Wilden“ zu tun.

c.  Das Bestehen auf der Unvergleichbarkeit Afrikas

Der Entwicklungsstand von Staaten wird immer noch großteils am Bruttosozialprodukt gemessen. Nach der großen Aufbruchseuphorie der 60er-Jahre fällt Afrika nach nahezu allen Indikatoren immer weiter hinter die Weltgesellschaft zurück. Ist das Anwachsen des Abstands zu den ehemaligen Kolonialmächten bitter genug (wobei noch das Argument der im Kolonialismus geschaffenen strukturellen Abhängigkeit gelten könnte), so schmerzt die Entwicklungsdynamik des Fernen Ostens umso mehr. Diese Länder scheinen ja zu beweisen, daß man trotz Kolonialismus und trotz schwacher Ausgangssituation eine dynamische Entwicklung durchlaufen kann. Afrikaner fürchten und wehren sich häufig gegen Vergleiche mit dem Fernen Osten. Sie fürchten, daß der Erfolg dieser Region als Beweis für die intellektuelle Überlegenheit der Asiaten angesehen werden könnte; ein Vorurteil, dem sich sicherlich auch manche Europäer anschließen. Doch löst der Nichtvergleich weder die Probleme Afrikas, noch bringt er Menschen dazu, ihre Meinungen zu ändern. Gerade der Blick auf Ost- und Südostasien könnte Afrika Auftrieb geben, weil sich hier zeigt, daß 1) auch wirtschaftlich benachteiligte Regionen aufholen können; 2) der Wirtschaftsaufschwung dieser Region im Vergleich mit Afrika sehr wahrscheinlich durch wesentliche Strukturunterschiede erklärt werden können, ohne daß man auf so wahnwitzige Ansätze wie die unterschiedlicher geistiger Leistungsvermögen zurückgreifen müßte:

a) extrem unterschiedliche Bevölkerungsdichten. Afrika war im Gegensatz zu Asien durch lange Zeit hindurch durch geringe Bevölkerungsdichten gekennzeichnet, mit allen damit zusammenhängenden Vor- und Nachteilen (geringe Spezialisierung, schwache Ausprägung des Handels, Besetzung von wichtigen Handelsfunktionen häufig durch Kontinentfremde wie Libanesen in Westafrika, Inder in Ostafrika etc.); eine Brachfeldwirtschaft ist vermutlich nur schwer kompatibel mit Outputmaximierung, welche die Grundlage effizienter Wirtschaften ist; die geringen Bevölkerungsdichten gingen einher mit einem geringen Grad an Hegemonisierung, dadurch fehlt vielen afrikanischen Staaten bis heute ein hoher Grad an Identifikation aller ihrer Bürger mit dem Staatsgebilde; dies wiederum hat sowohl Auswirkungen auf die Bereitschaft der Bürger, Opfer für das System, den Staat zu erbringen, als auch auf die Elite, auf sinnlose Bereicherung zu verzichten bzw. ihre Gewinne im Lande zu lassen etc.

b) sehr unterschiedliche Industrialisierungsstrategien: Die Erfolgsgeschichten asiatischer Länder gehen meist einher mit der extremen Abschirmung ihrer Industrien in deren Gründungsphase (entgegen den Ansichten der Weltbank); was in Afrika sehr verschieden gehandhabt wurde.

Dazu kommen die große linguistische und ethnische Vielfalt Afrikas und zahlreiche andere Punkte. Afrika hätte bei einem nüchternen Vergleich wenig zu befürchten. Es ist keine Schande, eine geringere Bevölkerungsdichte aufzuweisen; es ist keine Schande, dadurch länger Zeit zur Umstellung auf die hohen Anforderungen der integrierten Weltwirtschaft zu benötigen. Menschen lernen schließlich meist nur als notwendige Reaktion auf neue Anforderungen. Daß Menschen in sehr dicht besiedelten Gebieten ständig zur Innovation gezwungen sind, um überleben zu können, ist kein Beweis für größeres intellektuelles Leistungsvermögen. Es ist auch keine Schande, von anderen Regionen lernen zu wollen oder vielleicht zu müssen. Wurden nicht gerade die Japaner durch lange Zeit hindurch kritisiert, daß sie allzuviel lernten, daß sie eigentlich nur westliche Ideen kopierten?

Das absolute Bestehen auf der Unvergleichlichkeit der Entwicklung in verschiedenen Regionen ist für mich eines der deutlichsten Anzeichen mangelnden afrikanischen Selbstvertrauens: Afrikaner scheinen sich so wenig respektiert zu fühlen, daß jede weitere Infragestellung ihres Wertes (z.B. durch zugegebene neue notwendige Lernprozesse) kaum mehr möglich zu sein scheint.

Die Funktionen des Betrauerns der Vergangenheit

Das Gefühl von Machtlosigkeit, die Schaffung von Gegenklischees oder das Bestehen auf der Unvergleichlichkeit des Kontinents Afrika beruhen wahrscheinlich wesentlich auf den Traumas aus Sklaverei und Kolonialzeit. Es ist eine rückwärtsbezogene Fixierung. Was nützt sie dem Afrikaner?

a) therapeutische Funktion:

Das Trauma durch Sklaverei und Kolonialzeit ist immer noch in vielen Afrikanern lebendig. Dies ist nicht ungewöhnlich. Ich erinnere mich an einen Kibbutzaufenthalt in Israel, wo eine ehemalige KZ-Insassin gellend zu schreien begann, als sie deutsche Wörter hörte. Wie lange dauert es, bis man frei wird, selbst entscheiden zu können, ob man sich mit einem Thema beschäftigen will oder muß? Viele Afrikaner scheinen die Beschäftigung mit der Vergangenheit noch zu benötigen. Wenn das häufige und öffentliche Betrauern der von Europäern verursachten Vergangenheit den Sinn hat, das Leid zu verkraften, so sehe ich eine wichtige Funktion darin. Man sollte sich dessen aber auch bewußt sein.

b) ökonomische Funktion:

Nützt der ständige Appell an die Verantwortung des Westens für die katastrophale Situation Afrikas? Es ist eher fraglich, ob die ständige Betonung der Schuld des Westens (Kolonialismus, Sklaverei) an dieser Situation dessen Hilfsleistungen wesentlich steigert. Dagegen sprechen relativ hohe Budgetdefizite in nahezu allen potentiellen Geberländern. Ebenso wird auch die immer lauter werdende Forderung nach Entschädigung für Sklaverei und Kolonialismus kaum Erfolg haben. Wo wäre die logische Grenze für derartige Forderungen zu ziehen? Jeder könnte jeden für die letzten tausend Jahre verklagen. Die Mossi könnten die Republik Mali wegen der Annektion der Mossigebiete unter frühen Königen von Mali im 13.Jh. klagen usw. Privatinvestoren wiederum könnten eher abgeschreckt werden, weil sie chronische Schuldzuweisungen als Hinweis sehen könnten, daß man sich selbst nicht zutraut, unter allen Bedingungen zugesagte Leistungen und Infrastrukturen zu garantieren.

c) soziale Funktion:

Die Betonung einer besonderen Benachteiligung schafft sicherlich bei vielen Menschen eine gewünschte Solidarisierung. Abstrakt stellt sich dabei ein Vertreter einer „starken“ Gruppe einem Vertreter einer „schwachen“ Gruppe zur Seite, um diesem zur Durchsetzung seiner Vorhaben gegenüber anderen Mitgliedern der „Starken“ zu helfen. Oft geht diese Solidarisierung mit einer Art Unterordnung einher, man drückt ja aus, daß man gegen die anderen „Starken“ hilflos wäre und man wendet sich mit der Bitte um Hilfe gerade an Vertreter der Gruppe, von welcher man sich benachteiligt fühlt. Selbstbefreiung ist dieserart schwer möglich, wie es gerade in der verbalen Ebene oft deutlicher ersichtlich ist: So nannte der ehemalige Präsident Zentralafrikas, Bokassa, Charles de Gaulle „Papa“. Viele Afrikaner lassen aber auch merken, daß sie diese Rolle satt haben. Es stört sie außerordentlich, daß sie als arm, als schutzbedürftig angesehen werden. Sie haben mitunter ihre Probleme mit denen, die an ihnen ein Helfersyndrom ausleben möchten, die bei Afrikanern leichter das Gefühl haben, helfen zu können, als bei Anderen, denen gegenüber sie sich schwächer fühlen.

Afrika im Wandel: der neue afrikanische Realismus

Vieles spricht dafür, daß sich die Zeit der Resignation der Afrikaner dem Ende zuneigt. Immer mehr Menschen erkennen, daß vom Westen kein substantieller Beitrag zur Lösung der afrikanischen Probleme zu erwarten ist. Zunehmende wirtschaftliche Probleme führen zu erhöhten Spannungen auch dem Weißen gegenüber, was mit einer stärkeren Infragestellung der Europäer und des westlichen Modells einhergeht. Immer öfter treten Persönlichkeiten auf, welche der Phase der wehmütigen Rückwärtsorientierung eine dynamische und pragmatische Vorwärtsorientierung gegenüberstellen.

Der Erste in dieser Reihe war vermutlich Thomas Sankara, der von 1983-1987 Land und Gesellschaft Burkinafasos grundlegend veränderte. Bei seinem Amtsantritt fand er die einzig richtigen und sehr offenen Worte: Man sei zu sehr am Westen orientiert. Durch Hilfe von außen erhoffe man sich einen westlichen Lebensstandard, man habe sich aber deshalb mit einer Bettlerrolle abgefunden, darauf hoffend, daß der Westen die wesentlichen Probleme löse und zunehmend mehr Almosen gewähre. Dieser unwürdigen Existenz stellte er einen neuen Pragmatismus gegenüber: Das Land sei viel zu arm, um jemals einen ähnlichen Lebensstandard wie im Westen zu ermöglichen. Er könne daher nicht Reichtum versprechen, aber daß man wieder aus eigener Kraft überleben könne, daß man vom Bettler wieder zum ehrenwerten Menschen werden könne.

Mit ungeheurem Elan wurden innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Infrastrukturprojekte, gerade im ländlichen Bereich, in Angriff genommen. Da wurden in wenigen Monaten hunderte Dämme gebaut, ohne externe Finanzierung die Eisenbahnlinie nach Tambao verlängert, die Stadtviertel assaniert und vieles mehr. Burkina Faso wurde für viele junge Afrikaner zum Land der Hoffnung, wo ein neues, stolzes Afrika wiederauferstand. Und es zeigte sich, daß nach anfänglicher Zurückhaltung auch der Westen Sankara keineswegs reserviert gegenüberstand[5]. Es war damals für Entwicklungshelfer der Region geradezu ein Wunschtraum, in diesem Land mit seiner dynamischen Regierung arbeiten zu können. Die wesentliche Leistung Sankaras, der sicherlich auch Fehler beging, war die Wiederherstellung des Vertrauens in die eigene Kraft und die Lösung der Vergangenheitsfixierung. Sankara schraubte das Anforderungsprofil für alle Politiker des afrikanischen Umfelds so hoch, daß auch darin, neben dem Wegfall des Ostwestkonflikts, ein wesentlicher Grund für den Fall vieler unfähiger Staatschefs wie Moussa Traore in den letzten 6 Jahren zu sehen ist. Die Jugendlichen merkten, was entschlossene Politiker bewirken könnten und erhöhten den Druck auf ihre Politiker ungemein.

Seit dem Tode Sankaras 1987 haben viele Politiker seinen Diskurs weitergeführt, u.a. auch Laurent Gbagbo an der Côte-d’Ivoire. Dieser Diskurs findet sich auch in einer immer selbstkritischer werdenden innerafrikanischen Berichterstattung, wie in Jeune Afrique, New African oder West Africa.

Nelson Mandela könnte diesem neuen Denken endgültig zum Durchbruch verhelfen. Niemand zeigte stärker als er, wie der Glaube an eine Idee Berge versetzen kann. Er widerlegte alle Vorstellungen von der afrikanischen Machtlosigkeit. Selbst eines der brutalsten Unterdrückungsregimes, 27 Jahre hinter Gittern, konnten diese historische Persönlichkeit nicht brechen. Auch nach 25 Jahren im Gefängnis war Mandela nicht bereit, seinen Idealen gegen das Angebot zur Freilassung abzuschwören. Ein afrikanischer Freund sagte mir, daß Mandela seiner Ansicht nach Afrika das gäbe, was es am dringendsten benötige: Das Wissen, daß man alles erreichen könne, wenn man es nur wolle und daran glaube; das Wissen, daß den Entschlossenen mit Vision letztendlich nichts aufhalten kann. Oder wie es Jimmy Cliff in einem Lied so treffend ausdrückt: „You can get it if you really want!!“.

Es ist mir als Verantwortlichem für die afrikaspezifischen Veranstaltungen des Afro-Asiatischen Instituts sehr wichtig, dieses andere Afrika, dieses gestaltende, Geschichte machende, an sich glaubende zu zeigen. Es ist nicht das nehmende Afrika, sondern das gebende. Es ist nicht das fatalistische Bild Senghors, welcher das Gefühl Afrika und den Verstand Europa zusprach. Mein Afrika ist keines, mit dem man Mitleid haben müßte, es ist eines, das sich momentan in Problemen befindet, aus denen es sich aber wieder erheben wird. Es ist nicht das Afrika der wehrlosen Opfer der Europäer, sondern der Menschen, die niemals aufgeben und sich letztendlich durchsetzen werden.

Dieses Afrikabild negiert nicht die Leiden der Vergangenheit, benützt sie aber eher dazu, aus ihnen notwendige Lehren zu ziehen, um eine Wiederholung auszuschließen. Dieses Afrikabild verbirgt nicht seine Augen vor der aktuellen Benachteiligung vieler Afrikaner in unterschiedlichsten Situationen, aber es wehrt sich gegen das Gefühl der Resignation, es sucht nach Lösungen. In seinem Zentrum steht die Achtung vor der Kraft, der Intelligenz und Kreativität des Kontinents. Dieses Afrikabild erscheint, wenn Rasheed Akinyemi den Einfallsreichtum der politischen Karikatur Nigerias zeigt; Chibu Udeani die ausgefeilten Weltbilder afrikanischer Religionen darstellt; Pierre Tombo afrikanisches politisches Theater macht; zusammen mit dynamischen Organisationen wie dem Pan African Forum afrikanische Persönlichkeiten vorgestellt werden, die Geschichte machten und machen; Experten wie Bright Okogu brillant über komplexe Themen wie afrikanische Wirtschaftsalternativen referieren.

In diesem Bild sind Afrikaner nicht nur Opfer, sondern vor allem auch Täter, im positiven wie im negativen Sinne. Zu diesem Afrika gehört auch Mobutu, aber es ist noch mehr das Afrika der Tatkräftigkeit, das Afrika Thomas Sankaras,  Wole Soyinkas, Steve Bikos und Nelson Mandelas. Es ist das Afrika, das sagt: „Ob es den Weißen paßt oder nicht, und auch wenn noch soviel dagegen zu sprechen scheint: Wir bringen Afrika dorthin, wo es hingehört und nichts kann und wird uns aufhalten!“


[1] Universitätslehrer mit Afrika-Spezialisierung an verschiedenen Instituten in Österreich und Frankreich; Bildungsreferent am Afro-Asiatischen Institut Wien.

[2] Zweifellos kann der Empfang des Europäers sehr stark variieren: sowohl auf dem Niveau der Völker eines Landes (die Maasai Kenyas sind viel zurückhaltender als etwa die Kikuyu) als auch der Regionen (sehr reserviert z.B. Südwestnigeria, sehr entgegenkommend die Côte-d’Ivoire).

[3] Genießt ein Weißer in Afrika Gastfreundschaft, dann wird sie meist von einem relativ armen Menschen einem wesentlich reicheren gewährt. Gerade in Gesellschaften ohne sozialem Netz sind persönliche Beziehungen ungeheuer wichtig. Wer sich auf Reisen keine Hotels leisten kann, liefert Gastfreundschaft auf Gegenseitigkeit. Heute helf ich Dir, morgen reist jemand meiner Familie und er wohnt bei Dir… Je reicher der Gast ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit eines günstigen Tausches. Ich wurde in Afrika von der Straße weg häufig zum Essen eingeladen, übernachtete bei Vertretern der Elite, die einem einheimischen Unbekannten kaum mehr als vielleicht einen Schilling in die Hand gedrückt hätten. Es ist wahrscheinlich, daß auch in Österreich der Reiche eine größere Chance hat, Gastfreundschaft zu genießen, als der Arme, weil Abhängigkeit und Teilen gefürchtet werden.

[4] Wachsende Fremdenfeindlichkeit scheint Gesellschaften zu kennzeichnen, die Ängste entwickeln, den gewohnten Lebensstandard einzubüßen. Die Côte-d’Ivoire Houphouet-Boigny’s war durch lange Jahre ein fremdenfreundliches Land, als sie noch BNP-Zuwachsraten von 6-8%/Jahr verzeichnete. Durch den Verfall der Kakau- und Kaffeepreise entstand eine spürbare Fremdenablehnung, mit z.B. dem widergesetzlichen Rauswurf zahlreicher pragmatisierter Lehrer Burkinafasos aus dem Schulbetrieb, um Platz für eigene Arbeitslose zu schaffen. 1981 forderte Nigeria nach dem Verfall der Erdölpreise 1,5 Millionen Ghanesen auf, in ihr Land zurückzukehren usw.

[5]Eine weitere, häufig geäußerte Meinung von Afrikanern: Der Westen habe keinerlei Interesse an einem starken Afrika, ja sogar Angst davor und zerstöre daher jeden konstruktiven Ansatz in Afrika. Angesichts der intensiven westlichen Ängste vor einer Massenmigration nach Europa aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation Afrikas spricht momentan nur wenig für diesen Ansatz. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kontakts Europa-Afrika muß der Westen großes Interesse an der Existenz von Politikern wie Sankara in Afrika haben.

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