Möglichkeiten des Handelns und der Veränderung von Vorurteilen

Möglichkeiten des Handelns und der Meinungsänderung

(hier als PDF)

Afrikaner leiden an einem äußerst negativen Image und haben als Folge davon in  nahezu jedem essentiellen Lebensbereich deutlich schlechtere Chancen  und Akzeptanzwerte. Die Probleme der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung Afrikas strahlen auch auf das Image der hier lebenden Afrikaner aus. Dazu kommt die starke Tendenz der lokalen Gesellschaft zur Ingroup-Bildung, die auch dort mitunter Chancen zunichte macht, wo weniger negative Vorurteile aufreten.

            Die Situation und Akzeptanz von Afrikanern kann daher nur durch ein  Bündel von Maßnahmen in verschiedenen Bereichen erreicht werden:

    • durch Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen

    • durch Veränderung der Usancen durch erhöhte Transparenz und Kontrolle

    • Einführung eines Antidiskriminierungsgesetzes

    • Maßnahmen, die erhöhte Fairneß auf dem Arbeitsmarkt bewirken (wie erforderte höhere Transparenz bei der Stellen- und Subventionsvergabe auch in den sympathisierenden Bereichen)

    • Positive Diskriminierung in den sympathisierenden Bereichen

    • durch Bildungs- und Begegnungsmaßnahmen

    • Nichtmystifizierende Bildungsarbeit, die die Vergleichbarkeit der Menschen zeigt und das Opferimage weniger herausstreicht

    • Förderung von Kontakten auf allen Ebenen

Die Notwendigkeit eines Antidiskriminierungsgesetzes

Ein Antidiskriminierungsgesetz wäre kein Allheilmittel, könnte aber einige Exzesse verhindern, wie z.B. die selektive Ausschreibung von Wohnungen und Arbeitsplätzen mit Ausschluß von Zuwanderergruppen oder die Hetze gegen Zuwanderergruppen mit grober Verzerrung der Realität.

Dieter Schindlauer erarbeitete am Boltzmann Institut für Menschenrechte  einem Entwurf für ein Antidiskriminierungsgesetz dafür folgende notwendige Maßnahmen. Dieses sollte seiner Ansicht nach enthalten[1]:

    • ein Diskriminierungsverbot im rechtsgeschäftlichen Verkehr. Dieses soll auch Folgeschäden abdecken, wenn wegen rassistischer Diskriminierung Geschäftsabschlüsse nicht zustande kommen ;

    • ein Gleichhandlungsgebot bei der Stellenbewerbung und am Arbeitsplatz: Dieses soll Diskriminierung am Arbeitsplatz und bei der Arbeitsplatzsuche erschweren;

    • ein Gleichhandlungsgebot für den Öffentlichen Dienst;

    • die Einführung einer Ombudsperson gegen Diskriminierung, an die man sich im Falle von Diskriminierung wenden kann.

Die Veränderung der Usancen und Strukturen

Afrikaner stellen nur einen sehr geringen Promillesatz der Wiener Bevölkerung (ca. 2,5 Promille), dementsprechend ist ihr Fehlen in manchen Bereichen noch kein Beweis für Afrikanerfeindlichkeit. Die Häufigkeit der Vorurteile und die Geschlossenheit der lokalen Gesellschaft erfordern dennoch die Einführung eines Antidiskriminierungsgesetzes sowie den Abbau von wettbewerbsverzerrenden Strukturen, die Zuwanderern besonders schaden. Generell wird überall dort der Zuwanderer besonders geringe Chancen haben, wo besonders wenig Transparenz und Konkurrenz vorliegt.

Ein Antidiskriminierungsgesetz wird dort an seine Grenze stoßen, wo durch Undurchlässigkeit und Tendenziösität von Strukturen  Chancen für Zuwanderer erheblich verringert werden. An anderer Stelle (siehe S. 45ff bzw. 202ff) wurde gezeigt, wie durch die Geschlossenheit und die Ingroup-Tendenz der lokalen Gesellschaft Zuwanderer geringere Chancen vorfinden. Dem müßten Staat und Bund als Geldgeber entschieden entgegentreten durch:

1. Erhöhte Transparenz der Bereiche durch verstärkte Kontrolle und Dokumentation.

Warum sollten z.B. ein Ministerium, eine Einrichtung im Integrationsbereich oder der EZA, ein Universitätsinstitut nicht die Profile der Bewerber für einen Arbeitsplatz veröffentlichen und somit den Entscheidungsprozeß verständlich machen? Komparative Begründungen für die Wahl eines Kandidaten sollten schriftlich aufliegen. Was zeichnete diesen Kandidaten im Gegensatz zu den gescheiterten aus? Die sympathisierenden Bereiche, die gleiche Transparenzprobleme wie andere aufweisen, sollten hier demokratisch emanzipativ vorangehen. Man kann nicht Good Governance in afrikanischen Ländern einfordern, ohne selbst mit gutem Beispiel voranzugehen.

2. Verzicht auf demokratische Verengung durch Bekämpfung von Multifunktionärswesen und Interessenskonflikten.

Auch die sympathisierenden Bereiche weisen ähnliche demokratische Defizite wie die von ihnen oft attackierten Bereiche auf: Informalität von Entscheidungen, Konzentration der Entscheidungsprozesse in wenigen Händen, Interessenskonflikte, Multifunktionärswesen, oft problematischer und autoritärer Umgang von Führungspersönlichkeiten mit abweichenden Meinungen. Wenn Mitglieder eines subventionsvergebenden Gremiums gleichzeitig auch um Subventionen bei diesem ansuchen, liegt ein klassischer Interessenskonflikt vor, der zum Schaden von ansuchenden Zuwanderern ausfallen kann. Gerade Bereiche mit selbstgeäußertem großem demokratischem Emanzipationsanspruch sollten großen Wert darauf legen, Mißstände wie Multifunktionärswesen oder Interessenskonflikte abzubauen und durch eine breitere demokratische Basis größere Transparenz von Entscheidungen und Ressourcenvergaben zu ermöglichen.

3. Positive Diskriminierung in sympathisierenden Bereichen und warum Afrikaner auf qualifizierten Posten wichtig wären

Angesichts der vorhandenen negativen Klischees über Afrika, die vorwiegend auf Katastrophenmeldungen orientierte Berichterstattung über Afrika und die weitgehende Absenz afrikanischer wirtschaftlicher Success-Stories gerät auch entwicklungspolitische Bildungsarbeit an ihre Grenzen, die Mitbürger durch Information von der Gleichwertigkeit von Afrikanern auf qualifizierten Arbeitsplätzen zu überzeugen. Nichts überzeugt mehr als der konkrete Nachweis von Kompetenz. Der läge vor, wenn wir Afrikaner auf hochqualifizierten Arbeitsplätzen häufiger erleben. Doch im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Österreich keine afrikanischen Fernsehmoderatoren oder Journalisten, die über die Medien Menschen zum Umdenken bringen können; wir erleben in der österreichischen Gesellschaft Zuwanderer und besonders Afrikaner nur selten dort, wo wir selbst ratlos sind: bei Experten, Wissenschaftlern, Technikern, Managern in gehobenen Bereichen, Medizinern u.a. Wer und was sollte uns also zum Umdenken bringen, daß Zuwanderer und besonders Afrikaner nicht nur für die Bereiche geeignet sind, in denen wir sie täglich sehen: bei unterqualifizierten Straßenreinigungstätigkeiten, als Hilfsarbeiter und ähnliches?

Afrikaner auf exponierten qualifizierten Posten, auf denen sie viele Menschen überraschen,  wären vorzügliche Image-Verbesserer. Jeder afrikani­sche Informatiker oder Spezialist in High-Tech-Bereichen trägt vermutlich mehr zur Verbesserung der Meinungen über Leistungsfähigkeit und Intelligenz von Afrikanern bei als so manche Bildungs- und Kulturveranstaltung. Daher sollte z.B. der entwicklungspolitische Bildungsbereich Afrikaner auch in leitenden Positionen aufnehmen, in denen sie bei Begegnungen mit Österreichern alltäg­lich ihre Kompetenz beweisen können. Warum sollten Austro-Afri­kaner nicht auch verstärkt bei Entwicklungsprojekten in Afrika eingesetzt wer­den?

Eine meiner besten und erfolgreichsten Entscheidungen am Afro-Asiatischen Institut war die Einrichtung eines African Speakers’ Corners, in dem qualifizierte afrikanische Moderatoren absolut eigenständiges und sehr kritisches Programm machen konnten. Sie wählten die Themen und Vortragenden aus und führten im Namen des großen Bildungshauses durch die Veranstaltungen. Diese Initiative wurde vom Publikum ausgesprochen positiv angenommen.

Umso wichtiger wäre es, daß gerade die angesprochenen Bereiche, die für die Förderung von Beziehungen zwischen den Gesellschaften aus verschiedenen Weltgegenden subventioniert werden, die Zuwanderer aus diesen Regionen positiv diskriminieren und ihre Fähigkeiten in Managementbereichen zur Schau stellen. Ich glaube, daß es hier eine Bringschuld der sympathisierenden Bereiche gibt, zu mehr Fairneß am Arbeitsplatz beizutragen.

Einige Organisationen zeigen mehr Offenheit für Änderungen. Die Katholische Frauenorganisation, wegen ihres breiten Engagements und ihrer Offenheit gleichermaßen anerkannt wie von konservativen Kirchenkreisen attackiert, annonciert eine Stelle wie folgt:

Wir suchen Projektmitarbeiterin

Wir suchen eine Kollegin für das EU-Projekt […] Bewerbungen von Migrantinnen (der ersten oder zweiten Generation) werden bevorzugt!

Herstellung von Vertrautheit: Förderung von Kontakten auf allen Ebenen

Die Herstellung informeller Kontaktmöglichkeiten auf allen Ebenen ist die wahrscheinlich wirksamste aller Meinungsbildungsmöglichkeiten. Afrikaner sind für viele Wiener unbekannte Wesen, weshalb der Einfluß dominanter Medien auf die Prägung des Images der Afrikaner extrem hoch ist. In praktisch allen Lebensbereichen steigt die Akzeptanz der Afrikaner deutlich, wenn eine auch nur geringfügige Vertrautheit vorliegt. Selbst ein einmaliges kurzes informelles Plaudern mit Afrikanern verbessert Einstellungen spürbar. Wer Afrikaner niemals kennenlernte, findet afrikanische Wohnungsnachbarn zu 24% positiv, die „Erfahrenen“ akzeptieren Afrikaner bereits zu 50,7% als Nachbarn. Es ist daher wichtig, den Kontakt zwischen Afrikanern und der lokalen Bevölkerung auf allen Ebenen zu fördern. Dies könnte geschehen durch

    • Öffnung aller Wiener Gemeindebauten für Zuwanderer;

    • Förderung von Kontakten zwischen Afrikanern und anderen Mitbewohnern in Form von Straßenfesten etc.;

    • langfristig durch intensive Programme in Kindergärten und Volksschulen mit Afrikanern, vielleicht auch an Elternabenden. Viele Afrikaner können blendend mit Kindern umgehen, wodurch sehr effizient Kontaktscheu bekämpft werden kann;

    • verstärktes Engagement von Afrikanern beim Erlernen der deutschen Sprache. Die häufig ungenügenden Kenntnisse der deutschen Sprache der in Wien liebenden Afrikaner erschweren die Kontaktaufnahme mit weniger sprachkundigen Österreichern erheblich und vermindern darüber hinaus andere Chancen. Auch auf dem Arbeitsmarkt haben die schlechten Sprachkenntnisse vieler Afrikaner oft verheerende Folgen.

    • „Unterwanderung“ lokaler Strukturen durch Afrikaner: Afrikaner sind in lokalen politikbestimmenden Strukturen kaum vertreten, was ihre Außenseiterrolle festschreibt. Afrikaner sollten verstärkt in die Politik gehen und Mitglieder von Gewerkschaften und Mietervereinigungen werden. Durch ihre Absenz bleiben sie auch für die Mächtigen großteils unbekannte Wesen, können eigene Vorstellungen als Außenseiter nur schwer einbringen und verzichten auf einen oft für Mitglieder möglichen Rechtsschutz.

    • Afrikaner besonders hoher Professionalität könnten bei Ausbildungsprojekten für marginalisierte Gruppen eingesetzt werden: Gerade Personen mangelnder Ich-Stärke und meist schlechterer Ausbildung neigen verstärkt zur Geringschätzung von Fremden und somit auch Afrikanern. Wenn afrikanische EDV-Experten rechtslastige Jugendliche und Arbeitslose in EDV unterrichten würden, könnten mehrere Fliegen mit einer Klappe erlegt werden:
      • Durch den persönlichen Kontakt werden erfahrungsgemäß besonders leicht Vorurteile abgebaut;
      • Der Eindruck würde verstärkt, daß man von Afrikanern auch abseits der Trommel etwas lernen könne und sie somit auch für die lokale Gesellschaft nützlich sind. Ihre demonstrierte Kompetenz im High-Tech-Bereich  wäre ein wichtiges Gegensignal zum Image der halbnackten Tänzer, das Afrikaner häufiger begleitet;

        • Die verbesserten Berufschancen der Jugendlichen und Arbeitslosen könnten sich in einer verminderten Feindbildprägung niederschlagen, da die Jugendlichen Alternativen zur radikalen Gruppierung erhalten und Zuwanderer als Helfende erleben.

Bildungsarbeit: Afrikaner als mündige Akteure

Die Bildungsarbeit bietet vor allem dort Möglichkeiten, wo der direkte Zugang zu Afrikanern kaum möglich ist. Erfolgreiche Bildungsarbeit sollte Afrikaner als mündige Bürger darstellen, die für Positives wie für Negatives weitgehend selbst verantwortlich sind. Das ist kein Plädoyer für den Verzicht auf Diskussionen über Sklaverei und Kolonialismus, aber diese sollten nicht als absolut konditionierend hingestellt werden. Sie sind es nicht, wie andere Kontinente wie z.B. der Ferne Osten, beweisen. Sie sind eine Hypothek, aber keine ewige Verdammung.

Karikative Sammelorganisationen, die zu Werbezwecken Bilder afrikanischer Menschen in Elend und Not verwenden, sollten nach Möglichkeit deren Gebrauch empfindlich einschränken. Wohlmeinende sollten sich des Risikos bewußt sein, daß die gängige Darstellung von Afrikanern als ewige Opfer, Kindern gleich, für diese in der westlichen Lebenswelt von großem Nachteil sein kann. So sind z.B. auf dem Arbeitsmarkt Durchsetzungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Überwindung von Widerständen von großer Bedeutung. Warum sollte man jemand auf einem qualifizierten Arbeitsplatz einstellen, der den Ruf hat, seinem Schicksal keine Wendung geben zu können, der keine Power hat, der immer mächtige Freunde haben muß, um seine Ziele zu erreichen und nie für etwas verantwortlich ist? Ich halte es für eine Quadratur des Kreises, Afrikaner in den positiven Seiten als Erwachsene und bei den negativen als unschuldige Kinder präsentieren zu wollen, ohne allgemein Zweifel an ihrer Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme zu erwecken.

Die Notwendigkeit der Behandlung tabuisierter Themen

Die Vorurteile gegenüber Afrikaner verschwinden nicht, wenn man sensible Themenbereiche tabuisiert. Wenn die sympathisierenden Bereiche keine Aktivitäten setzen, um das Bild unintelligenter und krimineller Afrikaner zurechtzurücken, dann machen es die Nichtsympathisierenden. Es wird immer  jemanden geben, der die notwendigen Aussagen für Klischees liefert. Wenn eine kleine Gruppe von Afrikanern sichtbar mit Drogen handelt, dann ist Leugnen absolut kontraproduktiv. Man sollte vielmehr auf öffentliche Ängste mit einer intensiven Diskussion mit den Betroffenen reagieren, wie z.B. die Initiative Land der Menschen.

            Viele Menschen denken automatisch an Drogenhandel, wenn sie Afrikanern  begegnen. Afrikaner sind für viele Menschen Zuwanderer, die den Staat Österreich ausnützen, seine Gesetze nicht befolgen und respektieren und Drogenhandel betreiben. Die Proteste linker Gruppierungen gemeinsam mit Afrikanern gegen die Gleichsetzung von Afrikanern mit Drogenhandel waren eher kontraproduktiv und wurden verschiedentlich eher als Entschuldigung des Drogenhandels gedeutet. Viele Bürger sehen die Afrikaner als monolithischen Block, dessen größerer Teil stillschweigend duldet, was ein kleinerer Teil verbricht. Es wäre daher umso wichtiger, daß Afrikaner prominent öffentlich gegen Drogenhandel auftreten. Sie könnten dadurch zeigen, daß die afrikanische Gemeinde in Wien Drogenhandel genauso ablehnt wie die Wiener Bevölkerung. Die öffentliche Distanzierung von Afrikanern und ihren Organisationen von einigen „schwarzen Schafen“ im Drogenbereich könnte das Vertrauen in den Respekt der Afrikaner vor lokalen Gesetzen, Normen und Sitten erhöhen.

Bewerbungstrainings für Afrikaner für verbesserte Selbstdarstellung: Der Personalexperte Piswanger sieht wesentliche Probleme bei Stellenbewerbungen v.a. in schlechter Selbstpräsentation der Afrikaner: zu starke Hinweise auf ihre vermuteten Schwächen, zu geringes Betonen der eigenen Stärken, zu schlechte Vorbereitung auf Bewerbungsgespräche etc.

Die Wahl geeigneter Bildungsmethoden zum Abbau von Vorurteilen

Wir befragten zwischen Juli-September 2000 insgesamt 30 Experten der sympathisierenden Bereiche (Integration, Universitätsinstitute mit Nord-Süd-Ausrichtung, EZA) über die Effizienz unterschiedlicher Bildungsmethoden zur Bekämpfung von Vorurteilen:

Tabelle 113: Effizienz von Maßnahmen zur Aufwertung von Zuwanderern

Die Effizienz von Bildungsmaßnahmen zur Bekämpfung von Vorurteilen hängt nach Ansicht fast aller befragten Experten eng mit der Möglichkeit des Publikums zusammen, eigene Standpunkte einzubringen. Je mehr man dem Publikum einseitig Informationen vorgibt, umso weniger effizient ist die Meinungsänderung. Beim persönlichen Kontakt kann man sich selbst davon überzeugen, ob die eigenen Klischees vom Anderen stimmen; bei Diskussionen kann man die Haltbarkeit eigener Argumente überprüfen. Am Ende der Rangliste liegen Vorträge, bei welchen die Gegenseitigkeit des Informationsaustauschs nicht mehr in gleicher Weise gegeben ist. Filme und Konzerte liegen dazwischen, weil hier die Möglichkeit besteht, sich eigene Eindrücke zu bilden. Effiziente Bildungsarbeit sollte daher ein Höchstmaß an Austausch und Diskussionsmöglichkeit bieten.

Brückenbauende Kritik an Mißständen

Interkulturelles Bildungsmanagement sollte kaum Tabuthemen kennen: ob Übergriffe der Exekutive, ob struktureller Rassismus, ob informelle Ungerechtigkeit, ob Vorurteile von Österreichern oder von Zuwanderern. Jedes derartige Thema sollte sehr kritisch behandelt werden, aber die Kritik sollte dennoch stets Brücken bauen.

In anderen Kapiteln (z.B. 313ff) wurden die negativen Konsequenzen diskutiert, wenn das Eigeninteresse der Vermittler (Frustableitung, persönliche Aufwertung etc.) über das Sachinteresse (verbesserte Integration etc.) triumphiert. Man sollte sich spätestens bei Zeitpunkt und Artikulation von Kritik fragen, ob die Veränderung der Zustände zugunsten der Zuwanderer oder die eigene Frustableitung wichtiger ist.

Kritik sollte brückenbauend sein. Man soll bei Kritik stets die eigenen Standpunkte deutlich aufzeigen, aber auch, daß man bedingungslos gleiche Standards anlegt. Ich wage zu behaupten, daß gerade die offensichtliche Fairneß des pointierten Kritikers Alexander van der Bellen (Parteichef der Grünen Alternative) der Hauptgrund für die gestiegene Akzeptanz und Popularität der Grünen ist, selbst wenn die fehlende Einseitigkeit von altgrünen Leitfiguren kritisiert wird. Auch viele konservativ eingestellte Menschen scheinen den eher progressiven Professor zu schätzen, den ein wichtiges Element von den meisten seiner Kollegen unterscheidet: die wahrnehmbare Fairneß auch dem politischen Gegner gegenüber.

Erfolgreiche Modelle von Meinungsbildung scheinen stets zwei Prinzipien miteinander zu vereinen: feste eigene Positionen bei gleichzeitiger Gesprächsbereitschaft. Mit diesen simplen Prinzipien gelang es dem Sozialarbeiter Smaldino, das rechtsradikale Publikum des Jugendzentrums Bruchbude in Milmendorf/Deutschland weitgehend zur Technoszene zu überführen[2].  Er diskutiert intensiv mit den Skins und zeigt ihnen notwendige Grenzen über den Dialog auf. Er zeigt Jugendliche an, wenn diese nach der Vergasung von Menschen schreien; läßt sie aber dann nicht im Regen stehen, sondern legt beim Haftrichter ein gutes Wort für sie ein. Er gibt ihnen ständig das Gefühl, trotz ganz anderer fester Weltanschauung eine Orientierungshilfe und ein Freund zu sein.

Die Mehrzahl der in diesem Buch kritisierten gescheiterten Verhaltensweisen zeigt eine feste eigene Position der Sympathisierenden, aber kaum Gesprächsbereitschaft auf.

Erfahrungen eigener Bildungsarbeit

Als ich Abteilungsleiter des Afro-Asiatischen Instituts wurde, stellte ich das Bildungsprogramm radikal zum Dialog um. Ich integrierte natürlich weiterhin einen starken Kulturblock, modernisierte diesen aber. So organisierte ich die ersten African Dance Championships und African Fashion Championships in Österreich. Politische Karikatur in Nigeria sollte über die Mittel der Kunst in lokale Formen der Unterdrückung und die Notwehr dagegen einführen. Ich verminderte den Anteil der Veranstaltungen mit einseitiger Schuldzuweisung wie die repetitiven Vorträge mit ewig gleicher Aussage zum Kolonialismus oder die Vorträge über den Rassismus der Abwesenden und erhöhte den Anteil der Veranstaltungen, bei denen das Publikum eingeladen war, auch über sich selbst zu reflektieren.

Das konnte geschehen, indem ich Themen für Veranstaltungsreihen wählte, die in jeder Kultur von Interesse sind, wie z.B. „Die Welt der Liebe in Afrika, Asien und Europa“. Da kann auch der von Entwicklungsfragen Unbeleckte mit Asiaten und Afrikanern über unterschiedliche und gleiche Formen des Umgangs mit dem anderen Geschlecht diskutieren.

Das geschah durch die Einführung von Sensibilisierungsseminaren für Polizisten für den Umgang mit Afrikanern und Moslems (mit intensiven Diskussionen zwischen den Gruppen); durch Veranstaltungen, in denen die eigenen Unsicherheiten beim Umgang mit und in fremden Kulturen behandelt werden: Warum möchten wir Engagierten oft, daß sich Zuwanderer bei uns meist gänzlich ausleben und wir uns bei Reisen in den Süden gänzlich anpassen? Was machen islamische Zuwanderer in Österreich, wenn in bestimmten Situationen lokales weltliches Recht und islamisches Gebot im Widerspruch liegen und was erwarten wir von ihnen? Ist Gastfreundschaft wirklich ein fundamentaler Unterschied zwischen Afrika und Europa? Ein Afrikaner hielt einen komparativen Vortrag über diachrone europäische Polygamie und synchrone afrikanische Polygamie. Es war wichtig, daß Verbrechen kritisch behandelt wurden, aber noch wichtiger, herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen sie von Menschen in beliebigen Weltgegenden begangen werden. So war die Thematisierung des Kolonialismus wichtig, um die aus ihm hervorgegangenen individuellen und gesellschaftlichen Konflikte zu zeigen, aber nicht, um brutale Weltgesellschaften und ihre Opfer für immer festzulegen. Brücken zu schlagen bedeutete für uns, daß die Vergleichbarkeit der Kulturen, ihre meist ähnliche Form der Reaktion gezeigt wird, indem der Schleier der kulturellen Mäntel von beiden Extremen der Brücke gelüftet wird. Diese Vergleichbarkeit sollte nicht nur die Ähnlichkeiten im Guten, sondern auch im Schlechten zeigen und daß wir einfach alle Menschen sind.

Ich bemühte mich, ein konstruktives Klima zu schaffen, in welchem auch Angstreaktionen und zurückhaltende Reaktionen gegenüber Zuwanderern artikuliert werden konnten, ohne zu Gelächter und Aggressionen der überheblichen Wissenden zu führen. Es sollte auf eine gegenseitige respektvolle Art über fast alles diskutiert werden können. Ich vermerkte mit Freude, daß zunehmend auch ältere Menschen zu den Veranstaltungen kamen.

Für diese Veranstaltungen wählte ich bevorzugt Afrikaner und Asiaten, wenn sie genauso kompetent wie Österreicher waren. Ich akzeptierte Österreicher nur dann als Vortragende, wenn keine vergleichbar qualifizierten Zuwanderer vorhanden waren. Ich schuf sehr gut funktionierende African und Asian Speakers’ Corner, in welchen afrikanische und asiatische Moderatoren unabhängiges Programm machen konnten, für dessen Finanzierung ich garantierte.

Dementsprechend hohe Ansprüche stellte ich an die afrikanischen und asiatischen Moderatoren. Sie mußten nicht nur intellektuell und sprachlich geeignet, sondern auch fähig zum Brückenbau sein. Sie sollten auch imstande sein, in sehr persönlicher Weise zu zeigen, was das materielle und politische Ungleichgewicht dieser Welt für sie und andere Afrikaner und Afrika bedeutet, und dennoch die Hand zu konstruktiven Gesten zu reichen.

In dieser Zeit schuf ich mir vor allem von Seiten prominenter afrikanischer Vortragender einige Feinde. Ich weigerte mich, einigen Afrikanern mit bedenklichen Einstellungen weitere Vortragsmöglichkeiten zu geben. Eine dieser Personen war ein prominenter und in engagierten Kreisen herumgereichter Afrikaner, der zuvor in einer Diskussion im AAI die These äußerte, daß die menschliche Qualität der Afrikaner wesentlich besser als die der Europäer sei, weil Afrikaner auch wesentlich bessere Nahrungsmittel essen. Andere Personen, die in der engagierten Szene laufend eingeladen werden, berücksichtigte ich nicht mehr, nachdem sie mir sagten, daß afrikanische Völker zu dumm seien, sich ohne Diktatoren weiterzuentwickeln.

Die Vorträge und Diskussionen selbst sollten relativ kurz sein, wonach mit Open End diskutiert werden konnte. Dadurch sollte das Publikum die Möglichkeit haben, eigene Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Es gab kaum ein Thema, das nicht behandelt wurde: ob Polizeiübergriffe, ob afrikanischer Drogenhandel, ob Polygamie, ob Fremdenfeindlichkeit in verschiedenen Kulturen, ob doppelte Standards der Engagierten und der Nichtsympathisierenden; ob unterschiedliche Erwartungen an Beziehungen und Liebe in verschiedenen Kulturen; ob verschiedene Muster der Erziehung usw.

Der Erfolg schien mir recht zu geben. Innerhalb von 6 Jahren meiner Verantwortung verfünffachte sich das Publikumsinteresse an den Veranstaltungen des Afro-Asiatischen Instituts. Drei Viertel des österreichischen Publikums gaben in einer Evaluierung an, daß sich ihr Bild von Menschen des Südens durch diese Veranstaltungen sehr positiv entwickelt habe. Ich wage zu behaupten, daß dies gerade deshalb geschah, weil in den Veranstaltungen des Hauses auf Mystifizierung und naive Drittweltverherrlichung weitgehend verzichtet wurde. Menschen  wurden durch diese Programme besser begreifbar. Kompetenz von Afrikanern wurde nicht herbeigeredet, sondern praktisch durch die Moderatoren demonstriert.

Sensiblere Kommunikation mit Afrikanern

Afrika verändert sich rapide. Globalisierung, leichterer Zu­gang zu internationalen Medien und innerafrikanische Massenmigration führten und führen zu einer rapiden Veränderung von Verhaltensformen. Jugendliche in Afrika lernen immer öfter kulturfremde Modelle. Traditionelle Respektsgesten nehmen vor allem in den Städten ab, in denen längst nicht mehr jeder Jugendli­che Älteren widerspruchslos gehorcht. Amerikanische Vorbilder schwarzen Er­folgs wie Michael Jordan oder Michael Jackson verdrängen zunehmend afrika­nische.

Auch die nach Wien/Österreich kommenden Afrikaner sind meist von mehreren Kulturen geprägt und in vielen Kommunikationsformen von ländlichen Bevölkerungen Afrikas sehr verschieden. Dennoch können einige Mißverständnisse vermieden und schöne Erfahrungen gesammelt werden, wenn man für die Kommunikation mit Afrikanern Elemente berücksichtigt, die in afrikanischen Traditionen häufiger erscheinen. Wer sich ein wenig in andere Formen des Gebens und Scheins hineindenkt, wird oft bemerken, wie vergleichbar die Menschen eigentlich in der Tiefenstruktur sind.

Die „Ich bin OK, du bist OK“-Einstellung

Bei Gesprächen von Afrikaner/innen läßt sich oft folgendes beobachten: Person A erzählt etwas und bemüht sich, stets nur in Halbsätzen zu sprechen, dann kurze Pausen einzulegen, in welchen Person B eine Rückbestätigung in Form einer Zustimmung geben kann. Während A erzählt, wird B immer nur zustimmen, durch Gesten, einen bestimmten Tonfall oder Akzeptanzwörter. Erst wenn A fertig erzählt hat, antwortet B mit einer nochmaligen Zustimmung und bringt erst dann seine Einschränkungen zur Sprache. Daraus ergibt sich eine Atmosphäre „Ich bin O.K., du bist O.K.“, die für eine respektvolle und gelöste Verständigung förderlich ist. Beispiel:

A: Musa, gestern habe ich einen Freund, den Musa, getroffen.

 B: Schön.

A: Ich habe mit ihm früher gemeinsam in einer Wohnung gewohnt.

B: Hmm (toll).

A: Wir haben uns immer sehr gut verstanden.

B: Sehr schön.

A: Es ist schade, daß ich ihn nicht mehr häufig sehe. (Abschluß der Nachricht)

B: Hmm. Du hast recht. Das ist schade. Ich stimme Dir zu.

B: Ich denke ein wenig daran, daß Du mir früher erzählt hast, daß Ihr häufig gestritten habt und er Dich einmal belogen hat……

Der Mangel an Rückbestätigung im Gespräch kann viele Afrikaner anfangs verunsichern.

Positives Denken

Der Mangel an existentieller Absicherung führt zu einem in Afrika weitverbreiteten psychischen Schutzschild, einer Art „Die Flasche ist halbvoll, nicht halbleer“-Mentalität. Werbung und Konkurrenz gaukeln uns im Westen stärker vor, daß wir zum Glücklichsein zusätzliche und meist materielle Voraussetzungen benötigen. Der Partner muß perfekt sein, die Wohnung repräsentativ, das Auto beeindruckend und wir glauben auch tatsächlich, dies alles erreichen zu können und zu müssen. Daher blicken wir eher darauf, was uns noch fehlt und so ist die „Die Flasche ist halbleer“-Einstellung bei uns in gewissem Sinne logisch und systemerhaltend. Sie treibt die Wirtschaft voran. In Afrika hingegen ist man häufig schon froh, wenn sich eine schwierige Situation nicht zu einer Katastrophe entwickelt, gegen die man sich nicht mehr wehren könnte.

In Grußsituationen zeigt sich dieser Wille zum Positiv-Sehen oft überdeutlich. Das Leben ist prinzipiell in Ordnung, wobei es einige Einschränkungen geben mag. Ein in Westafrika von mir beobachtetes Beispiel[6]:

A: Musa, wie geht’s Dir.                       B: Gut, Isa.

A: Wie geht’s Dir bei der Arbeit?          B: Gut. Leider habe ich sie verloren.

Die Tendenz in unserer Gesellschaft, das Negative überzubetonen, erweckt in Afrikaner/innen mitunter den Eindruck einer freudlosen Gesellschaft.

Grundrespekt bei langsamem Statuswandel

Afrikanische Gesellschaften sind oft relativ klein und v.a. im ländlichen Gebiet auch von einem langsamen technischen Wandel geprägt. Das Wissen des Einzelnen veraltet daher auch weniger schnell als in westlichen Industriegesellschaften. Alte Menschen genießen deshalb in Afrika meist nach wie vor großen Respekt, weil sie aufgrund ihrer Erfahrung auch wirtschaftlich wertvoll sind. Durch diesen langsameren technologischen Wandel in Verbindung mit ihrer Einbindung in Solidaritätsnetze kommen Menschen weniger schnell an die Spitze der Gesellschaft und werden auch weniger schnell an deren Rand gedrängt, d.h. der Status eines Menschen verändert sich langsamer als im Westen, wo man angeblich sehr leicht vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann und vermutlich auch genauso leicht vom Millionär zum Tellerwäscher. Daraus ergibt sich in Afrika meist eine Art Mindestrespekt vor dem unbekannten Anderen, den sich der andere anfangs nicht erkämpfen muß[7].

Der Person wird dadurch – mit einem deutlichen Altersbonus, wenn er älter ist – ein gewisser Prestigevorschuß zuteil. Diesen Bonus kann er nur in bescheidenem Maße und nur recht langsam ver­größern bzw. verkleinern. Dies führt dazu, daß er im Gespräch und in seinem sonstigen Aus­drucksverhalten auch freier agieren kann, weil sein Risiko, die Achtung des Andern zu verlieren, wesentlich geringer als das eines Euro­päers ist. Er kommt weniger schnell auf der sozialen Leiter nach oben, aber auch weniger schnell nach unten. Es ist auch das Gefühl, weniger verlieren zu können, das Afrikaner auf der Tanzbühne lockerer agieren läßt.

In Mitteleuropa ist der erste oberflächliche Kontakt oft einem Kräf­temes­sen gleichzusetzen. Visitkarten werden präsentiert, aus denen der Status hervorgeht und die häufig – mit Angabe von Titeln und Funktionen – zeigen sollen, daß man dem anderen überlegen ist. In der folgenden Unterhaltung, meist eigentlich Diskussion, mitunter sogar Wettkampf, will man dem Anderen möglichst be­wei­sen, daß man ihm zumindest gleichwertig, wenn nicht überlegen ist. Durch die Gefahr, nicht dem eigenen Wert entsprechend eingestuft zu werden, liegt die Taktik oft pri­mär darin, Fehler zu vermeiden und nur das scheinbar Sattelfeste zu präsentieren, was ein erheblich redu­ziertes Ausdrucksspektrum zur Folge hat, ob in Witz, Gestik oder Mimik. Ein Österreicher wird eher gehemmt tanzen, wenn er mit verächtlicher Kritik von Zusehern rechnen muß wie: „Schau Dir den an, wie blöd der tanzt!“ In Afrika hingegen (auch in südeuropäischen Ländern) klatscht man meist begeistert in die Hände, wenn ein Kind einmal etwas Neues ausprobiert. Man lacht leichter miteinander als übereinander. Die gegenseitige Abhängigkeit in Notfällen erfordert einen sensibleren Umgang miteinander. Insofern hat die westliche Flexibili­tät bei der Statusvergabe Rigidität des Verhaltens zur Folge, während es bei vielen Afrikanern umge­kehrt zu sein scheint. Dieses Nichtverzeihen von Fehlern von Seiten der Österreicher stellt für viele Afrikaner ein Problem dar und verunsichert sie.

Der Blick in die Augen – nicht immer Ausdruck von Ehrlichkeit

In einer Reihe afrikanischer Kulturen sollte ein Jüngerer nach der Tradition einem Älteren nicht laufend ins Gesicht starren, sondern seinen Blick als Zeichen des Respekts hin und her schweifen lassen[8]. Diese Respektsgeste wird von Europäern oft als Falschheit bzw. als Mangel an Ehrlichkeit interpretiert.

Unterschiedliche Zeiteinstellungen auch durch unterschiedliche sprachliche Prägungen

In vielen afrikanischen Sprachen werden zukünftige Ereignisse anders interpretiert. So findet man in der Bambara-Sprache Malis zwei verschiedene „Hilfszeitwörter[9]“ für die Zukunft. Tatsächlich bezeichnen sie aber nicht eine Zeitebene wie in Tempussprachen, sondern vielmehr die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses. Wenn daher ein Bambara-Sprecher sagt: „n bena bo i ye“, wird dies in der deutschen Übersetzung fälschlicherweise als „Ich werde Dich besuchen!“ übersetzt, während es heißen sollte: „Ich werde Dich möglicherweise besuchen!“. Es ist durchaus möglich, daß diese Denkmuster auch beim Erlernen europäischer Sprachen erhalten bleiben und zumindest anfangs oft zu Mißverständnissen führen. Der Eine meint, der Andere habe etwas versprochen, der Andere, daß er nur von einer Möglichkeit gesprochen habe.

Sensible Benennung von Menschen und Kulturen Afrikas[10]

Die deutsche Sprache und ihre österreichischen Varianten weisen eine Reihe von Ausdrücken auf, von denen sich viele Afrikaner betroffen fühlen. Etwa ein Viertel bis ein Fünftel der in Wien lebenden Afrikaner befindet sich schwarz in Wien (d.h. illegal), sie leben in einer Stadt mit beliebten Mehlspeisen wie z.B. Mohr im Hemd, Brotsorten wie Negerbrot, Redewendungen wie neger sein (pleite sein). All diesen Ausdrücken ist gemeinsam, daß sie in unterschiedlichem Maße von Afrikanern und Sympathisierenden abgelehnt und als Beweis für den immanenten Rassismus der Gesellschaft gesehen werden.

Die Welt der Bezeichnungen will gelernt sein, um nicht in eines der zahlreichen aufgestellten Fettnäppchen interkultureller Kommunikation zu tappen.

Für Afrikaner verwendete Bezeichnungen

Für Kulturen und Völker in formellen wie informellen Situationen verwendete Bezeichnungen geben oft Rückschlüsse auf die Einstellung des Sprechers zu den ange­sprochenen Personengruppen, über seinen Wissensstand und über vermutete Unterschiede zwischen der „eigenen“ und der „fremden“ Kultur.

Fast alle für Afrikaner verwendeten Bezeichnungen sind auch innerhalb der „wohlmeinenden“ Kreise umstritten. Nur das Wort Afrikaner scheint von allen akzeptiert zu werden, ohne den Vorwurf des Rassismus hochkommen zu lassen. Da die Verurteilung der Verwendung dieser Ausdrücke unserer Meinung nach oft sehr willkürlich zu erfolgen scheint, wollten wir die Betroffenen selbst als oberste Richter über die Bezeichnungen entscheiden lassen, denen wir sie unterwerfen. Ich bin der Meinung, daß Bezeichnungen, die von Afrikanern selbst akzeptiert werden, kein weiteres Höchstgericht mehr benötigen.

N-Wort und andere Bezeichnungen für Menschen aus Afrika

Es ist offensichtlich, daß die Art der Ansprache eines anderen Menschen Kontakte teilweise erleichtern oder erschweren kann. Einige Bezeichnungen können zu erheblicher Verstimmung des afrikanischen Gesprächspartners führen. Wir untersuchten daher die Akzeptanz folgender Bezeichnungen bei Afrikanern: Schwarzafrikaner, Schwarzer, das N-Wort und Farbiger.

Die heftige Zurückweisung des belasteten Ausdrucks N-Worts durch Afrikaner ist nicht überraschend. Mit der Sachlage Vertraute kennen die Standardantwort vieler Österreicher, daß das N-Wort doch OK wäre, weil man einen Afrikaner kenne, der ihn akzeptiere. Unsere Umfragen 1991-1993 zeigen, daß offensichtlich alle, die so argumentieren, den gleichen Afrikaner kennen, denn nur ein einziger der 86 Befragten akzeptierte diesen Ausdruck. 4 von 5 Afrikanern fanden den Ausdruck verletzend oder unangenehm.

Tabelle 115: Akzeptanz von Bezeichnungen für Afrikaner

Es ist genügend bekannt, daß die Bezeich­nung mit dem N-Wort von Afrikanern mit dem englischen Wort „Nigger“ und folg­lich mit der Sklavenzeit as­soziiert und daher als hochgradig verletzend empfunden wird. Die Be­zeichnung ‚Farbiger‘ wird von einigen als etwas un­gewohnt einge­stuft. Weitgehend akzeptiert werden die mit der Nennung der (natürlich verallgemeinern­den) Körperfarbe verbundenen Bezeichnun­gen ‚Schwarzafrikaner‘ und ‚Schwarzer‘. Afrikaner selbst schlagen – falls keine genauere Spezifikation erfor­derlich ist – meist den unge­nauen Aus­druck ‚Afrikaner‘ vor.

Die Verwendung des N-Worts in der Praxis

Um zu untersuchen, inwieweit das N-Wort überhaupt noch aktiv verwendet wird, befragten  wir 1992 insgesamt 50 und im Jahr 2000 insgesamt 100 Personen[11], also in Summe 150 Personen bezüglich ihrer Bezeichnungen für Afrikaner. Wir wählten dafür folgende Versuchsanordnung: Wir zeigten Passanten eine Bildermappe mit Menschen aus verschiedenen Kulturen und ersuchten sie, uns mitzuteilen, wen sie auf den Fotos sehen. Vier der 25 Photos betrafen Afrikaner, die in unterschiedlicher Kleidung aufgenommen wurden (3x traditionell, einmal im Anzug)[12]. 8% bezeichneten im Jahre 2000 die abgebildeten Afrikaner mit dem N-Wort. Dieser Prozentsatz entsprach weitgehend den Antworten des Jahres 1992, wobei das N-Wort vorwiegend von über 40jährigen verwendet wurde. Darüber hinaus wollten wir wissen, wie häufig das N-Wort ohne Widerspruch akzeptiert wird, falls ihn der Interviewer als „Autoritätsperson“ einführt. Der Interviewer unterhielt sich mit dem Interviewten über die Bilder und gebrauchte dabei selbst als Erster das N-Wort. Weitere 5% fühlten sich nun durch das Vorbild des Interviewers ermutigt, selbst diese Bezeichnung zu verwenden. Nur 15% aller Interviewten protestierten gegen die Verwendung dieses Ausdrucks, wobei die Häufigkeit des Protests von 1992 (10%) auf 2000 (15%) zunahm, was sowohl für ein größeres Problembewußtsein wie auch für eine geringfügig angestiegene Zivilcourage spricht.

Tabelle 116: Verwendung des N-Wortes in der Praxis

Verwendung des N-Wortes in der Praxis Bildermappenumfrage, Ebermann 2000
Akzeptanz des N-Worts Beschreibung Befragte in %, n=100
aktive eigenständige Äußerung Verwendung ohne Anregung des Interviewers 8%
Halbaktive Verwendung Interviewer führte Ausdruck ein, Interviewter verwendete ihn weiter 5%
Toleranz bzw. Nichtprotest Interviewer verwendet diese Bezeichnung ohne merkbaren Protest des Interviewten 72%
Offener Protest Interviewer verwendet Bezeichnung, Interviewter zeigt sein Befremden über den Ausdruck 15%

Als wir 702 Wiener um ihre primäre Assoziation mit Afrikanern fragten („Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an Schwarzafrikaner denken?“), antworteten 4,23% der Befragten mit dem N-Wort, einer mit Bimbo. Drei Viertel derer, die den Ausdruck verwendeten, waren über 50 Jahre alt. Die Verwendung N-Wortes scheint somit zu einem großen Teil ein Generationsproblem, zu einem kleineren ein Bildungsproblem zu sein. Da auch die Zahl derer steigt, die seine Verwendung offen kritisieren, könnte die Verwendung dieses Ausdrucks in einigen Jahren der Vergangenheit angehören.

In unseren Interviews mit Afrikanern zeigte sich, daß die meisten Afrikaner zuerst herauszufinden versuchen, ob die Gesprächspartner das N-Wort in verletzender Absicht oder unbewußt verwenden. Für sie ist daher die intendierte verletzende Verwendung des Begriffes Voraussetzung für die Einstufung des Andern als Rassisten. Sie agieren somit als Betroffene hier um einiges weniger vorurteilsbehaftet als viele, die mit ihnen sympathisieren.

In den Medien wird das N-Wort kaum mehr verwendet. In einer dreiwöchigen Untersuchung im Oktober 1992 über die Afrikaberichterstattung von Krone, Kurier und Presse fand sich nur in den Aussagen von Interviewpartnern, nicht aber in Kommentaren diese Be­zeichnung.

Die Umfragen zeigen eindeutig, daß die Betroffenen das N-Wort als hochgradig verletzend empfinden und zurückweisen. Die bewußte Verwendung dieses Ausdrucks ist demzufolge menschenverachtend.

Die Bezeichnungen Schwarzafrikaner und Schwarzer

Bei beiden Bezeichnungen tritt die Hautfarbe als Klassifikationsmerkmal in den Vordergrund. Auch diese Wortwahl wird von vielen Sympathisierender und einem kleineren Teil der Afrikaner heftig kritisiert. Insgesamt akzeptieren jedoch 2/3 der Betroffenen den Ausdruck ohne Probleme.

Manche begründen die Ablehnung von Afrikanern mit der christlichen Farblehre, in der die Farbe Schwarz besonders negativ besetzt sei[13]. Die Vertreter dieser Theorie weisen z.B. auf die häufige negative Bedeutung von Wortkompositionen hin, die die Komponente Schwarz beinhalten: z.B. Schwarzfahrer, Schwarzarbeiter, -seher, -hörer, schwarzsehen, anschwärzen etc. So schreibt z.B. Araba-Johnston[14]:

„Schwarz als Synonym für ‚böse’ und ‚schlecht’ fand und findet sich in Konzepten wie ‚Schwarz-Weiß-Malerei’,’Schwarzarbeit’, ‚schwarz sehen’,’ schwarze Schafe’ (um nur einige wenige Beispiele zu nennen) im Gegensatz zu weißer Unschuld und weißen Engeln wieder. Das alles sind Redewendungen, Spiele und Bilder, von denen alltäglich Gebrauch gemacht wird. Sie überliefern eine uralte Weltordnung, die das Universum in ‚gut’, d.h. weiß, und ‚böse’, d.h. schwarz, einteilt, und verankern diese Assoziationen so im allgemeinen Bewußtsein.“

Ich halte die Annahme, daß es zwischen Bezeichnungen wie Schwarzarbeit oder Schwarzfahrer und der Abwertung von Afrikanern einen gegenseitigen Zusammenhang gibt, zwar für weit verbreitet, aber kaum beweisbar und wenig hinterfragt. Während Bezeichnungen wie das N-Wort eindeutig als abwertend klassifiziert werden können, haben Begriffe, die das Element Schwarz beinhalten, meist kaum etwas mit Afrika oder mit afrikanischen Erfahrungen zu tun, sondern damit, daß Schwarz mit Dunkelheit und Leere assoziiert wird. Schwärze ist in diesem Sinne der Mangel an Tageslicht, an Transparenz, an Erkennbarkeit und somit der  Gegensatz zum Tag, zum Hellen, zum Weißen. Dementsprechend ist natürlich der Schwarzseher nicht der, dessen Haut schwarz ist, sondern der im Geheimen, w. im Dunklen fernsieht (wo er nichts zu bezahlen braucht). Ähnliches gilt für Schwarzfahrer, Schwarzhörer usw.

Man blickt in einen Brunnen und erkennt nichts, weil er dunkel ist, was den Eindruck von Leere erzeugen kann. Daher ist es nicht unlogisch, daß die Bezeichnung Schwarzkopf den Analphabeten bzw. Nichtswissenden bedeutet (dessen Kopf leer ist), die Bezeichnung Im-Bauch-Schwarzer den Heuchler (dessen Innerstes man mangels Licht nicht erkennen kann). Die zwei letzten Beispiele stammen nicht aus dem Deutschen, sondern aus verschiedenen afrikanischen Sprachen, was die überregionale Logik dieser Sprachmuster zeigt[15].

Die teilweise negative Konnotation der Farbe Schwarz hat meiner Ansicht nach kaum negative Auswirkungen auf  die Einschätzung von Menschen dunklerer Hautfarbe. So wie man nicht wegen der dunkleren Farbe automatisch Vorurteile gegen manche Obstsorten haben wird, dunkleres Fleisch nicht automatisch als schlechter beurteilt, Schwarzhaarige nicht gegenüber Blonden abwertet (eher umgekehrt), wertet man auch nicht automatisch Afrikaner wegen ihrer Hautfarbe ab. Jedoch schließen viele Menschen aus der Hautfarbe auf die Herkunft aus Afrika und damit aus einem „armen Kontinent“ mit vielen Problemen und zahlreichen Mißerfolgen. Diese Herkunft, die mit Rückständigkeit, mangelnder wirtschaftlicher Dynamik, Analphabetismus, physischer Stärke bei gleichzeitigem scheinbaren Fehlen vergleichbaren Geisteslebens wie im Westen assoziiert wird, ist für mich der wesentliche Grund der negativen Einschätzung.

Viele Sympathisanten und Austro-Afrikaner nehmen an, daß durch die Bekämpfung der Wortkompositionen, die die Farbe Schwarz enthalten, die Einstellung der lokalen Bevölkerung gegenüber Afrikanern verbessert werden könnte. Ich halte dies für eine Illusion.

Es scheint in den Kulturen der Welt weitverbreitet zu sein, Menschen aufgrund ihrer äußerlichen Merkmale einzuteilen, dies besagt per se noch nichts über eine etwaige vorurteilsbehaftete Besetzung der Äußerlichkeiten[16]. Daß Afrikaner von vielen eher negativ gesehen werden, hat mehr mit Klischees der Armut und der kulturellen und wirtschaftlichen Rückständigkeit zu tun als mit ihrer Hautfarbe. Wenn eines Tages afrikanische „Tigerstaaten“ erscheinen, wird der Begriff Schwarzafrikaner ungleich positiver aufgefaßt werden.

Die Bezeichnung Farbiger

Die Bezeichnung Farbiger wird nur selten für Afrikaner verwendet, die Akzeptanz des Begriffs ist dazu relativ gering und sollte daher unterlassen werden. Auch in der Bildumfrage wurde diese Bezeichnung kaum gewählt (nur 1x).

Was also für Afrikaner verwenden?

Auf die Frage, mit welcher Bezeichnung sie am liebsten angesprochen werden möchten, antworteten die afrikanischen Interviewten (52 Personen antworteten):


Für die respektvolle Ansprache von Menschen aus Afrika ist daher eindeutig die Bezeichnung Afrikaner die beste Wahl. An ihrer Statt kann auch die Staatsbürgerschaft treten (Malier, Nigerianer etc.). Vor allem, wenn es um die Beschreibung sozialer Realitäten geht, ist es mitunter kaum vermeidbar, trotzdem die Farbe ins Spiel zu bringen. Eine Diskussion über die Apartheid in Südafrika wäre ohne dieses Unterscheidungskriterium wohl etwas von der Realität abgehoben. Spätestens dann könnte man nach Meinung der befragten Afrikaner die Ausdrücke Schwarzer oder Schwarzafrikaner verwenden. Die überwiegende Mehrheit der Befragten bevorzugt die Ansprache mit Eigenname und möchte, daß die Hautfarbe nur als ein zusätzliches, aber unbedeutendes Merkmal wahrgenommen wird. Die doch weitgehende Akzeptanz der farbbezogenen Eigenbezeichnungen Schwarzer bzw. Schwarzafrikaner deckt sich mit Umfragen aus den USA über die gewünschte Eigenbezeichnung von Afro-Amerikanern[17]:

Tabelle 118:  Gewünschte Eigenbezeichnung von Afro-Amerikanern

Gewünschte Selbstbezeichnungen  in %
  Black 44.15
  African American 28.07
  Afro-American 12.12
  Negro 3.28
  Some other term 2.19
  Colored 1.09
  No preference 9.11

Bezeichnungen für Herkunftsregionen der Afrikaner

Afrikaner kommen aus Gegenden, die wirtschaftlich zu den schwächeren dieser Welt zählen. Auf die daraus abgeleiteten sprachlichen Nuancen der Unter- und Überordnung achten Afrikaner mit großer Aufmerksamkeit.

 

Während es kaum überrascht, daß der Ausdruck ‚unzivilisiertes Land‘, der eindeutig Lebensformen als minderwertig beurteilt, am meisten abgelehnt wird, überrascht, daß ‚armes Land‘ negativer als ‚unterentwickeltes Land‘ gesehen wird. Die ständige Kata­stro­phenberichterstattung der internationalen und natürlich auch österreichischen Medien über Afrika (siehe auch Einschätzung der Medien) führt zu einer Übersensibilisierung in diesem Bereich. Man hat es satt, daß Afrika immer nur von seinen Schwächen her gezeigt wird, auch wenn der Gesprächspartner viel­leicht damit nur Solidarität ausdrücken will;

In sympathisierenden Kreisen kursiert häufig das Klischee eines sozial gerechteren traditionellen Afrika, in welchem logischerweise Arme mehr geschätzt werden. Tatsächlich ist Armut auch in Afrika Anzeichen für Scheitern, für gesell­schaftliche Unter- und Überordnung und insofern auch Maßstab für die Über- und Unterlegenheit von Kulturen und Personen. Die fol­genden Sprichwörter aus der Kultur der Bambara in Mali zeigen, daß Arme auch in Afrika kein sonder­lich großes Prestige genießen:

faama ka gwèsè ye faantan ye.

Der Arme ist die Zahnbürste des Reichen (der mit ihm macht, was er will).

faantan ni kuntanya tè ban.

Der Arme wird immer für einen Dummkopf gehalten.

faantan jo, faantan jalaki, a na bo kè a bèè la.

Ob der Arme recht oder unrecht hat, ist egal (w. er kann darauf sch…).

Die Messung des Entwicklungsstands von Nationen am Bruttonationalprodukt pro Kopf der Bevölkerung ver­stärkt den Eindruck, daß ein materiell Armer gleichzeitig unterentwickelt ist. Der oft solidarisierende Hinweis auf die Armut kann daher auch als Andeutung auf einen niedrigeren Entwicklungsstand mißverstanden wer­den.

Der Ausdruck ‚Entwicklungsland‘ wird weit nicht so negativ beurteilt wie ‚unterentwickeltes Land‘, da er – weil vielleicht weniger Unterordnung ausdrückend – als weniger wertend empfunden wird. Der unspezifische und auch vielfach unpräzise oder falsche Ausdruck ‚Land des Südens‘ sowie der rein wirtschaft­liche Ausdruck ‚Nichtindustrieland‘ werden hingegen eher akzeptiert. Die Befragten bevorzugen die Nennung des konkreten Landesnamens, aber auch häufig den Ausdruck ‚Drittweltland‘.

Reisen macht tolerant – macht Reisen tolerant?

„Wer einmal auf die Reise geht, der kann Dir was erzählen.“ Stimmt diese Hypothese noch, daß Reisen nicht nur das Wissen vergrößert, sondern auch die Offenheit und die Persönlichkeit? Die Menschen der OECD-Staaten reisen in diesen Jahren wesentlich häufiger als jemals zuvor. Wie kommt es dann, daß sie dennoch zunehmend negativere Einstellungen gegenüber Migration und Migranten zeigen?

Der Süden ist uns nahe geworden, weil er plötzlich finanzierbar und in wenigen Stunden erreichbar ist. Viele Millionen von Menschen reisen jährlich in Länder des Südens, die sich durch einen akzeptablen Standard und günstige Preise ihrer Touristikeinrichtungen auszeichnen: Kenya, Thailand, Indonesien, China und viele andere Staaten sind scheinbar bereits vertraut geworden. „Ich kenne Afrika, ich war schon einmal dort!“ Hunderttausendfache Aussagen von Urlaubern nach einem Badeurlaub an einer Küste, oft in Wohlstandssilos an herrlichen Stränden, entfernt und abgeschirmt von der Misere und den Problemen des Hinterlandes.

In unserer Untersuchung stellten wir uns die Frage, inwieweit  sich die Einschätzung von Zuwanderergruppen verändert, wenn man ihre Länder besuchte. Führt eine bessere Kenntnis der Herkunftsländer der Migranten auch zu einer vergrößerten Akzeptanz als Wohnungsnachbarn, als Arbeitskollegen und als gleichberechtigte Mitbürger?

Die Ergebnisse

Reisen scheint zu bilden, wenn auch nicht so stark, wie man annehmen könnte und möchte. In der vorliegenden Studie wurde nach der Reiseerfahrung in die Herkunftsländer von 7 Zuwanderergruppen gefragt. Tatsächlich scheinen sich auf den ersten Blick durch Reiseerfahrungen die Einstellungen in allen wesentlichen Integrationsbereichen zu verbessern.

Die Herkunftsländer der 7 verglichenen Zuwanderergruppen wurden in einem sehr unterschiedlichen Maße besucht, wobei vermutlich regionale und kulturelle Nähe sowie die Kostenfrage eine wesentliche Rolle spielten.

Von 702 befragten Personen reisten nach

Italien 419
Jugoslawien 324
Türkei 262
arabische Länder (einschl. Nordafrika) 84
Afrika 53
China 50
Japan 26

Die Akzeptanz der Zuwanderergruppen schwankt in den einzelnen Integrationsbereichen zwischen 1 (eher akzeptiert) und 3 (eher nicht akzeptiert). Zuerst betrachteten wir die durchschnittliche Akzeptanz der Zuwanderergruppen über alle Integrationsbereiche und verglichen die Urteile von Personen mit Reiseerfahrung mit den Personen ohne bisherige Reiseerfahrung:


Es zeigt sich, daß alle Zuwanderergruppen von Personen mit Reiseerfahrung besser beurteilt wurden als von Personen ohne Reiseerfahrung. Die Einstellungen gegenüber Afrikanern, Japanern, Arabern und Chinesen verbesserten sich durch die Reisen in die betreffenden Regionen besonders stark, während die Veränderungen bei Türken, Jugoslawen und Italienern deutlich geringer ausfielen. Dies scheint auf den ersten Blick zu zeigen, daß weniger bekannte Kulturen durch den Reisekontakt besonders an Wertschätzung gewinnen. Ein zweiter Blick verleitet jedoch zur Vorsicht, ist doch der Bildungsstand der Reisenden bei der Wahl der einzelnen Reiseregionen von erheblicher Bedeutung:

Tabelle 121: Akademikeranteil an Reisenden nach Zielland

bereistes Land Akademikeranteil an Reisenden
Japan 53,8
China 51,0
Afrika 45,3
arab. Länder 27,4
Türkei 20,0
Jugoslawien 19,0
Italien 18,9

Betrachten wir die Länder, deren Bereisung zu einer wesentlich größeren Akzeptanz von Zuwanderern aus diesen Ländern führte. Man sieht, daß der Anteil an Akademikern unter den Reisenden in diese Länder besonders hoch ist. Es ist kaum daraus zu folgern, daß Akademiker ihre Vorurteile besonders leicht verändern. Vielmehr haben Akademiker noch vor der Reiseerfahrung meist positivere Urteile über Zuwanderer. Dies mag durch größeres Wissen über andere Kulturen bedingt sein (schulisch, universitär oder durch Zugang zu mehr und besseren Medien erworben), durch geringere Konkurrenz zu Zuwanderern, durch bessere Qualifikation (die meisten Zuwanderer arbeiten in weniger qualifizierten Bereichen) und auch besseres Wissen über die Erwartungshaltungen der Interviewer. Es ist (zum Glück) in den meisten gesellschaftlichen Bereichen nicht sehr populär, fremdenfeindlich zu sein. Viele Studien zeigen, daß Bildung und Fremdenablehnung eng korrelieren: je höher die Bildung, um so geringer die Fremdenablehnung. Wenn daher mehr Akademiker in ein Zielland fahren, dann hebt dies automatisch die durchschnittliche Zustimmung der Reisegruppe zu Zuwanderern aus dieser Region. Die folgende Grafik zeigt deutlich, wie eng Bildung mit Wertschätzung von Zuwanderern zusammenhängt (Einstellungen gegenüber türkischen Zuwanderern):

Paradoxerweise verschlechtern sich in manchen Bereichen die Einstellungen von Akademikern durch die Reiseerfahrung. Absolventen einfacher Bildungswege wie z.B. der Hauptschulen verbessern hingegen in allen untersuchten Bereichen ihre Einstellungen zu Zuwanderern. Ob Akademiker bei Reisen vielfach Entmystifizierungen theoretisch bekannter Welten erleben, besonders elitär urteilen und dadurch gerade ärmere Länder kritischer beurteilen, bleibt eine offene Frage.

Durch Reisen bewirkte Meinungsveränderung in Integrationsbereichen

In einer nächsten Stufe wollten wir untersuchen, wie sich Reiseerfahrung in den verschiedenen Integrationsbereichen auswirkt[18]:

Am stärksten scheinen sich durch das Reisen (Median aller 7 Regionen) folgende Einstellungen positiv zu verändern: 

Tabelle 122: Auswirkungen des Reisens auf Einstellungen zu Zielkulturen

Zuwanderer aus bereisten Land Median der Veränderung in %
ist als Freund vorstellbar 37,5
würde Top-Job an ihn vergeben 16,8
ist intelligent 14,3
bringt Wien mehr, als er kostet 14,1
ist bei Arbeit motiviert und fleißig 13,0
Zuwanderergruppe ist ein Gewinn für Wien 11,1
ist eher vertrauenswürdig 11,0
respektiert Gesetze und Bräuche 9,8
ist als Familienmitglied vorstellbar 5,0
wird als Nachbar eher akzeptiert 2,8

In erster Linie werden somit durch das Reisen Kontaktängste abgebaut. Es steigt die Offenheit für vorerst nicht zu enge Kontakte (wie einer lockeren Freundschaft) deutlich (1.), aber nur beschränkt die Offenheit für die Aufnahme des Zuwanderers in die eigene Familie (9.). Es steigt die Akzeptanz, daß der Zuwanderer ein Gewinn für die anonymen Körper Staat und Stadt ist (4., 6.), daß er als Mitglied der Gesellschaft akzeptiert wird, aber man muß ihn nicht unbedingt in seiner engsten Nähe haben (10.). Wichtig für Zuwanderer ist, daß auch ihre Akzeptanz am Arbeitsmarkt deutlich zu steigen scheint (2., 3., 5).

Besonderheiten des Afrika-Tourismus

Der Afrika-Tourismus ist vorwiegend auf die Bereiche Baden und Tierwelt beschränkt. Er bietet seltener als bei anderen Destinationen den Besuch historischer Stätten oder direkte Kontaktmöglichkeiten mit der lokalen Bevölkerung. Sofern die menschlichen Ziele der Ausflüge nicht dem Archetyp des vom Flair des Abenteuers umgebenen  „Wilden“ zu entsprechen scheinen, wie z.B. die Maasai Kenias und Tansanias, locken die Angebote meist nicht viele Menschen hinter dem Ofen hervor.

Ich erinnere mich an einen Vortrag über Kenia an der Wiener Urania vor ca. 10 Jahren, der vor über 200 Personen stattfand. Das Publikum bestand überwiegend aus Menschen mit Fernweh, und somit großteils aus Reiselustigen. Dem Vortragenden gelang das Kunststück, bei insgesamt 200 Dias nur 3x  Menschen zu zeigen (die noch dazu völlig falsch erklärt wurden). Da wurde ein Kamba gezeigt, der eine harmlose grüne Baumschlange in seiner Hand hielt. Er wurde als Maasai bezeichnet, der wisse, wie er die gefährlichste Giftschlange Afrikas, die Grüne Mamba, zu halten habe. Fast alle Dias handelten von Tieren und Pflanzen, obwohl der Titel die Vorstellung des wahren Kenias versprach. Trotzdem reagierte das Publikum mit einer mir unverständlichen Begeisterung und fragte den Vortragenden auch um seine Meinung zu verschiedenen gesellschaftspolitischen Fragen des Landes. Mit stolzgeschwellter Brust erzählte der ältere Vortragende als Kompetenznachweis, daß er schon 4 Reiseleitungen in dieses Land übernommen hätte und gab weitreichende Urteile über die „Unfähigkeit“ der lokalen Bevölkerung ab, ohne Weiße zurechtzukommen. Bei keinem anderen Kontinent könnten derartig bescheidene Kenntnisse bereits zum Abhalten von Vorträgen an renommierten Instituten, zum ergriffenen Lauschen des Publikums, zum Zuschreiben von Kompetenz, zur Übernahme von Reiseleitungen führen. Wie kam er zu diesen Reiseleitungen? Wie glaubhaft würden Österreicher einen Amerikaner empfinden, der als „Österreich-Experte“ in den Staaten einen Vortrag über Österreich hält, weil er 4x zwei Wochen im Naturschutzgebiet des Neusiedlersees verbracht hatte?

Ich war als Student selbst ein Jahr lang Reiseleiter in Ostafrika und Westafrika. Ich begleitete Touristen auf den typischen Pfaden, in die Serengeti, als Bergführer auf die schneebedeckten Hügel des Kilimandjaro und zu historischen Stätten in Westafrika. Ganz sicher liegt das Hauptaugenmerk der meisten Afrika-Touristen in der Sehnsucht nach einer unberührten Natur, teilweise nach archaischen Zuständen mit noch funktionalen menschlichen Gemeinschaften und nur sekundär im Kennenlernen der Probleme eines Landes. Das ist nicht von vornherein zu verurteilen. Afrika ist trotz seiner geographischen Größe und relativen Nähe fern und unbekannt. Lehmbauten[19], von denen bereits nach wenigen Jahrzehnten oft nur mehr Brocken übrigbleiben, sind für die meisten Touristen keine angreifbare und faßbare Geschichte, die sie erstaunen läßt. Ehemalige große Städte Afrikas wie Kumbi Saleh, die Hauptstadt des Königreiches von Gana zwischen dem 7. und 11. Jh., welches die enorme Fläche von rund 1 Million km2 aufwies, sind außer für die geübten Augen eines Archäologen kaum mehr wahrnehmbar. Aber dennoch waren die meisten Touristen offen für eine tiefere Einführung in die Alltagswelten, sofern diese nicht in indoktrinierender Weise erfolgte.

Ich führte die Reisenden in die Welt der Grußformen und Verhaltensweisen lokaler Völker ein, zeigte ihnen die für uns wie gruppendynamisches Feedback wirkende Form der Rückbestätigung in vielen Kontaktsituationen, lehrte sie Grundprinzipien afrikanischen positiven Denkens, einige Sprichwörter und freute mich darüber, daß der Großteil der Reisenden mit großem Spaß bei jeder sich bietenden Gelegenheit diese Verhaltensweisen einsetzte.

Ich streute – im Reiseplan nicht vorgesehen – z.B. Besuche in Krankenhäusern des Hinterlandes ein, wo die Touristen angesichts des Medikamentenmangels fast ihren gesamten Bestand an Medikamenten als Spenden hinterließen. Wir unterhielten uns, da ich einheimischer Landessprachen oft mächtig war, mit Bauern und Hirten über ihre Überlebensprobleme. Die meisten Mitreisenden dieser Kleingruppen reagierten mit spürbarer Sensibilität.

Natürlich gab es auch die Reisenden, für die diese einfachen Afrikaner nur Trophäen waren. Es gab junge Männer, die unbedingt hinter dem Rücken ihrer Frauen erstmals mit Afrikanerinnen schlafen wollten. Es gab den Chefarzt aus Wien, der trotz ausführlicher Erklärungen, warum sich Maasai nicht ungefragt fotografieren lassen wollten, augenblicklich beim ersten Anblick seine Kamera zückte, und der, als ich sie ihm niederdrückte, verbissen im Auto sitzen blieb, auch als es interessante Stätten zu besuchen gab: „Wenn ich nicht fotografieren kann, interessiert mich das Ganze nicht!“. Er schien am stärksten vom Prinzip betroffen zu sein, daß jemand, der eine Reise macht, auch etwas Vorzeigbares demonstrieren muß. Alle 5 Minuten erhob er sich im VW-Bus, filmte 10 Sekunden aus der Dachluke heraus, dann sank er wieder dumpf in den Wagen zurück, uninteressiert an den Vorgängen, da ihn nur die Dokumentation, also die Zukunft interessierte. Nach seinen Erzahlungen dürfte er bereits an die 100 Länder bereist haben, auf Nachfrage waren ihm nur die Hotels im Gedächtnis geblieben: „Dieses Hotel ist genauso wie jenes in Sri Lanka!“ etc. Aber Personen wie er blieben erfreulicherweise in der Minderheit.

Bei meinen Kollegen unter den Reiseführern fand ich großteils die gleiche Form der Dramatisierung der afrikanischen Realität vor, die ich beim Vortragenden an der Urania beschrieb. „Nervenkitzel, teilweise unberechenbare Menschen und Tiere, Abenteuer!!“. Ganz sicher wurden damit Grundbedürfnisse abgedeckt. Sicher tauchten bei dem einen oder anderen Touristen nach der Heimreise Erzählungen von Schlangen in Badezimmern u.ä. auf. Tröstlich und optimistisch stimmte mich, daß ich nach Rückfrage bei meinen Kollegen scheinbar mit Abstand die besten Trinkgelder erhielt, was zeigte, daß auch von Massentouristen behutsam vorgebrachte alternative Information geschätzt wird.

Der Massentourismus wird verschiedenen Ländern Afrikas noch länger erhalten bleiben. Trotz all seiner Problematik, seiner Vernetzung mit den lokalen Eliten, ökologischen Folgeerscheinungen, die er mitunter auslöst, bietet er dennoch auch eine bescheidene, aber realistische Chance für eine erste Annäherung zwischen den Kulturen. Auch diese Reiseformen wirken bewußtseinsverändernd.

Die Ergebnisse scheinen zu zeigen, daß durch konkrete Reiseerfahrung besonders die Offenheit für Freundschaften mit Afrikanern, die Akzeptanz der Anwesenheit von Afrikanern in Wien und ein größerer Respekt vor den intellektuellen Fähigkeiten von Afrikanern gefördert wird. Das ist doch was….

Ein persönliches Plädoyer für die Entexotisierung von Afrikanern

Afrikaner sind Menschen wie Du und ich! Welch banales Argument und gleichzeitig wie richtig und doch oft so schwierig und gegen so viele Widerstände zu vermitteln…..

Mir sind die verschiedenen Einstellungen der engagierten Szene gegenüber Afrikanern wohl vertraut, weil ich sie alle irgendwann einmal in meiner Entwicklung teilte und die meisten durch Erfahrungen, Analysen und den Wunsch nach Anwendung gleicher Standards korrigierte. Ich merke in vielen Gesprächen mit meinen Studenten und Besuchern von entwicklungspolitischen Veranstaltungen den Wunsch nach einer Mystifizierung des Kontinents und seiner Menschen, vielleicht auch durch die zunehmende soziale Kälte unserer Gesellschaft bedingt. Ich freue mich, wenn diese Begeisterung für manche Anlaß zu erhöhtem Engagement für die Integration von Afrikanern ist und ich bedaure es, wenn die Mystifizierung mitunter dazu führt, daß die Begeisterung durch offensichtliche doppelte Standards anderen Menschen kaum weitergegeben werden kann. Ich merke bei vielen Studenten eine leichte Enttäuschung, wenn ich von der Vergleichbarkeit der Menschen spreche, vielleicht Anzeichen der wichtigen Funktion dieser Mystifizierung. Ich glaube, daß auch für interkulturelle Begeisterung in hohem Maße zutrifft, was Erich Fromm für beginnende Liebesbeziehungen postulierte: Was man gemeinhin für Leidenschaft hält, ist oft nur ein Indikator für das Ausmaß der vorausgegangenen Einsamkeit. Es kann auf die Dauer nur Enttäuschung bringen, wenn die Defizite der eigenen Gesellschaft zu überhöhten Erwartungen an Menschen aus anderen Kulturen führen. Demzufolge ist der folgende Abschnitt ein sehr persönlicher Versuch, zum Lieben von Afrikanern gerade durch das Erkennen der gemeinsamen Stärken wie Schwächen und die Nichtbetonung der Differenz beizutragen.

In meinem eigenen interkulturellen Werden begann ich mit dem Wunsch nach der maximalen kulturellen Differenz und nach einer größeren sozialen Wärme, als die altbekannte Gesellschaft mir zu geben schien. Mit zunehmendem Alter fiel mir jedoch hinter den Masken der kulturellen Verschiedenheiten  immer mehr die Ähnlichkeit der Menschen auf, Ich stellte diese daher auch zunehmend in den Mittelpunkt meiner Forschungen, Publikationen und Bildungsaktivitäten. So banal es klingt, es bescherte mir deutlich weniger Anerkennung und sogar heftigere Zurückweisung als die vorausgegangene Betonung der Differenzen. Auf beiden Seiten gibt es eine Reihe heiliger Kühe, die man besser nicht antastet oder über die man – um ein ruhiges Leben zu führen – rein mystifizierend sprechen sollte.

Ich erinnere mich an meine ersten Afrika-Kontakte. Ich war schwer begeistert, es war ein Rausch, ein Flug der Farben… Und natürlich interessierte ich mich, wie viele Zwanzigjährige, vor allem für die Teile Afrikas, die uns am fremdesten erscheinen, wie die Wüste, die ich per Autostop durchquerte oder die Maasai, unter denen ich lebte… Dieser erste Wunsch nach dem Exotismus, nach maximalen kulturellen Unterschieden, scheint bei „Anfängern“ in Afrika nicht so selten zu sein. Ich lebte 1978 bei den Maasai in einer sogenannten „Kriegergesellschaft“, wurde nach einigen Proben meiner Tauglichkeit voll akzeptiert und war sehr stolz darauf. Ich begeisterte mich für die scheinbar nahezu völlige Absenz alltäglicher Konflikte und mißdeutete dies anfangs als Beweis eines höheren Maßes an Friedfertigkeit. In einem Zeitungsartikel im Kurier schrieb ich über meine Erfahrungen bei den Maasai, daß die einzigen „Wilden“, denen ich in Afrika begegnete, europäische Touristen gewesen wären.

Ich merkte auch, daß mich meine Beschäftigung mit diesen Kulturen in meiner Herkunftsgesellschaft wesentlich interessanter machte. Von einem jungen Menschen, der noch um seinen Rang in der Gesellschaft kämpfte, wurde ich zunehmend zu einer Person, die man gerne vorstellte, zu einem schrulligen Typen, der aus der Menge herausragte und plötzlich Dinge tun konnte, die ihm vorher verwehrt waren, wie Rundfunkserien (über Afrika) zu machen, Vorträge zu halten, zu denen viele Menschen mit ähnlichen Sehnsüchten kamen.  Sogar bei Weißen in Afrika erlebte ich eine ähnliche Aufwertung. So besuchte mich 1978 z.B. in Kenia das gesamte – oft sehr isoliert lebende – Personal der österreichischen Botschaft im Maasai-Dorf.

Dazu kam die oft herzliche Aufnahme in afrikanischen (meist ländlichen) Gesellschaften, in denen ich als junger Mensch eine Aufmerksamkeit und Anerkennung erfuhr, die mir in unserer Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt unmöglich gewesen wäre. Egal wie groß ein Fest war, wie wichtig der Anlaß, egal in welchem der 15 Länder, in denen ich lebte: Ich saß bei wichtigen Anlässen fast immer neben dem Dorfchef in der ersten Reihe, wurde – der lokalen Sprache meist kundig – oft von führenden Persönlichkeiten der städtischen Gesellschaft eingeladen. Ich fühlte mich hoch geschätzt und fast geliebt, Afrika tat meiner Seele sehr gut. Ich hatte jede Motivation der Welt, mich weiter intensiv mit Afrika zu beschäftigen. Es würde mich wundern, wenn es nicht vielen anderen Menschen ähnlich gehen würde, die sich mit Afrika beschäftigen. Die subjektive Aufwertung, das Gefühl, als etwas Besonderes wahrgenommen zu werden, heilten die Wunden, die mir meine Gesellschaft geschlagen hatte.

Selbst stabiler geworden, begann ich im Laufe der Jahre jedoch zunehmend die Funktion verschiedener Erfahrungen zu hinterfragen und kritischer zu werden. Im ländlichen Bereich geboren, fragte ich mich immer häufiger, wann denn endlich der vielbeschriebene Kulturschock auftauchen würde. Er kam bis heute nicht. Ich stehe in Afrika kaum häufiger als in Österreich vor absolut unverständlichen Verhaltensweisen: eine gewisse Solidarität innerhalb des Dorfes, die Vorurteile gegenüber Außenstehenden, die Struktur des Dorfklatsches, das Motzen über das schönere Haus des Nachbarn, der mitunter mit harten Erziehungsmethoden anerzogene Respekt vor dem Alter, das gegenseitige Ignorieren derer, die aus verschiedenen (politischen) Lagern kommen; die Männerrunden beim Heurigen (bzw. beim Cabaret), die Frauen, die sie irgendwann einmal abholten, die Dominanz der Männer im öffentlichen und die stille Stärke der Frauen im privaten Bereich, die bedeutende Rolle der Familie bei der Wahl des Ehepartners, die typischen Männergespräche um Erotik und Sexualität, die sehr ähnliche moralische Bewertung männlicher wie weiblicher Sexualaktivitäten, sogar die Ähnlichkeit vieler Lebensweisheiten wie in  Sprichwörtern gaben mir immer mehr das Gefühl, mein Zuhause kaum verlassen zu haben. Oberflächliche Unterschiede wie das etwas dunklere Äußere, anders klingende Sprachen, etwas andere Körpersprache traten zunehmend in den Hintergrund und wurden von mir eines Tages nicht mehr wahrgenommen.

Mit zunehmenden Sprach- und Kulturkenntnissen lernte ich in diesem fernen Kontinent Menschen kennen, die mir seltsam vertraut erschienen. 1982 lebte ich im kleinen Dorf Ganhoue im Nordwesten der Côte-d’Ivoire, um die lokale Sprache zu untersuchen. Eine Gruppe von Schülern und Studenten aus der Region kehrte während der Ferien in den Ort zurück, um ein Kulturfestival zu veranstalten. Man war allgemein überrascht, einen Weißen vorzufinden, der die Mauka-Sprache leidlich sprach und in den einfachen Unterkünften lebte. Schnell saß ich inmitten vieler junger Menschen, die mir eine Reihe von Fragen zu meinen Erfahrungen und meinem Herkunftsland stellten. Dann sprach mich plötzlich eine weibliche Stimme mit unverwechselbarem sanftem Timbre an: „Was machst Du denn hier?“. Ich blickte auf und traute meinen Augen nicht. Ich sah Marianne, meine Jugendliebe, die ich – Nomen est Omen – im Wachauerlande kennengelernt hatte. Sie sprach wie sie, sie bewegte sich wie sie, sie lächelte wie sie, sie hatte eine ähnliche Dynamik wie sie; sie hatte einfach alles von Marianne, nur ein wenig dunkler gefärbt. Ich war augenblicklich schwer verliebt, und offensichtlich auch diese Studentin. Wir waren beide zu vernünftig, noch dazu in dieser sehr konservativen islamischen Region, um uns auf eine Beziehung einzulassen, aber diese Seelenverwandtschaft warf mich dennoch um. Ich traf noch viele weitere Menschen, die mir aus meiner Kultur heraus vertraut schienen, wie z.B. eine perfekte Kopie von Michel Piccoli, mit seinem unverwechselbaren Habitus, seinem Haaransatz, seinem Lachen, seiner dynamisch-maskulinen Ausstrahlung. Ich war daheim.

Das Gemeinsame ist so auffällig, daß es umso mehr überrascht, wie oft das Trennende in den Vordergrund gestellt wird. Die Betonung des Trennenden und Exotischen deckt für manche vermutlich Defizite der eigenen Gesellschaft ab, schützt andere vor unerwünschter Konkurrenz und ist für wieder andere kommerzielles oder intellektuelles Geschäft. Wer will Bücher oder Artikel über das Vertraute lesen? Wer geht zu Vorträgen, bei welchen nicht „faszinierende fremde Welten“, sondern das Gewohnte präsentiert wird? Für mich persönlich lagen aber in 10 Jahren in der Fremde die verschiedenen Kulturen oft einfach wie Tarnkappen über sehr ähnlichen menschlichen Grundmustern, ein wenig der Unterscheidung zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur der linguistischen Theorie der Transformationsgrammatik vergleichbar.

Ich sehe die großen kulturellen Unterschiede nicht mehr, die auch ich anfangs wahrzunehmen schien. Ich sehe sie nicht, wenn ich bedingungslos gleiche Maßstäbe anlege.

Ich sehe diese Unterschiede nicht in der Gastfreundschaft (siehe ausführlich S. 88), obwohl ich sie in einem Ausmaß genoß, wie ich sie in Europa selten erlebt hatte. Doch wäre in schwachen Ökonomien Reisen überhaupt möglich, wenn es keine Gastfreundschaft gäbe? Sie ist dort eine Notwendigkeit, wo ohne sie jegliche Reisetätigkeit zum Stillstand kommen würde, weil sich bei schwacher Monetarisierung niemand Fremdenzimmer leisten könnte. Die Gastfreundschaft besteht auf potentieller Gegenseitigkeit und wird durchaus oft auch klar als Tauschverhältnis analysiert. Wer anderen einen Gefallen erweist, erhält auch Anspruch auf einen Gegengefallen. Für diese Gegengefallen hat man durchaus mitunter das Gedächtnis von „Elefanten“, um mit afrikanischen Sprichwörtern zu sprechen. Eines Tages wollte ich von Touba in die Provinzhauptstadt Man reisen (beides Orte in der Côte-d’Ivoire). Beim Abschied sagte mein Gastgeber, daß er für mich einen Gastgeber in Man wüßte, daß er aber vorziehe, daß ich nicht zu dieser Person ginge. Diese Person würde ihn bei der nächsten Gelegenheit (mein Gastgeber war Politiker) an den Gefallen der Übernachtung erinnern und mit verschiedenen wenig integren Wünschen behelligen. Mein Gastgeber könnte ihm dann diesen Gefallen kaum abschlagen.

Die Natur des potentiellen Tauschverhältnisses bewirkt offensichtlich, daß Menschen unterschiedlicher Herkunft, Schicht und Tauschqualität auch in Afrika unterschiedlich behandelt werden. Ein wohlhabender Gast ist ein nicht unattraktiver Gutschein für die Zukunft. Man hat weniger Angst vor Diebstahl, weil man weniger zu verlieren hat und der Gast durch seinen Wohlstand vermutlich nicht auf Diebstahl angewiesen ist. Je geringer die Reizüberflutung durch Medien, desto dankbarer ist man nach anfänglicher Skepsis oft für Abwechslung durch Besuch, ob im kleinen österreichischen Alpental oder im entlegenenen Bauerndorf in Afrika. Ein reicher und noch dazu alleinreisender Fremder ist somit in fast jeder Hinsicht eher eine Bereicherung als eine Bedrohung zusätzlicher Verarmung. Daher wird in der Regel ein alleinreisender Europäer in einem Bauerndorf ganz anders empfangen als ein alleinreisender Nomade, den darüber hinaus oft Klischees der Diebstahlneigung begleiten: Der Europäer wird vielleicht sogar im Haus des Dorfchefs, meist aber im Hause einer besseren Familie schlafen, der Nomade in einer peripheren Hütte oder einem anderen Unterstand. Und selbstverständlich hat der Gast als oberstes Gebot die lokale Ordnung zu achten: sontan tè sògòma dònkili da, sagt ein Sprichwort der Bambara in Mali. Auf Deutsch: „Der Gast (w. Hausloser) singt nicht das Lied des Hahns.“, d.h. er hat niemanden aufzuwecken und sich keine Rollen anzumaßen, die ihm nicht ausdrücklich übertragen wurden.

Wo vergleichbare Rahmenbedingungen wie in Europa auftreten,  verschwinden die Unterschiede zunehmend. Auch in afrikanischen Städten mit ihren ungleich härteren Konkurrenzkämpfen ums Überleben, mit ihren kleineren Wohn- und Überlebensräumen wird Gastfreundschaft längst nicht mehr so weit gesehen wie im ländlichen Bereich: Es fehlen meist Raum, Zeit und Mittel, zusätzliche Gäste bei sich aufzunehmen. Der Gast ist kaum mehr Abwechslung, sondern oft eher eine zusätzliche Last.

So vergleichbar die Selektivität bei den Nutznießern der Gastfreundschaft, so vergleichbar ist auch die Kausalität der Einschränkung und Veränderung derselben. Als das europäische Modell im letzten Jahrzehnt in die Krise kam, gingen die Schranken hoch und Zuwanderer wurden zunehmend pauschal als Schmarotzer gesehen, v.a. diejenigen, die aus ärmeren Ländern kamen. 1984/85 lebte ich 9 Monate beim Fischervolk der Kelinga-Bozo in Mali. Der Literatur[20] entnahm ich, daß es sich um das gastfreundlichste Volk Malis handle. Die Bozo haben als Fischer praktisch ein Fischmonopol auf dem Niger und dadurch einen im Vergleich zu Nachbarvölkern wesentlich höheren Lebensstandard. Die Anzeichen dafür sind überdeutlich: wesentlich mehr Mopeds, gut gebaute Häuser, gepflegte Kleidung, ausreichend Nahrung usw. Aber einige Jahre zuvor geriet das System in die Krise. Um ihren Lebensstandard trotz ihrer starken Bevölkerungszunahme zu halten, verwendeten die Bozo trotz der Warnung der Regierung immer feinmaschigere Netze, um ihre Fischfänge zu vergrößern. Dadurch wurden aber auch viele Jungfische gefangen und die Fischbestände gingen in beängstigendem Maße zurück. In dieser Phase der Bedrohung eines Systems kam ich für einige Monate für Forschungen in ein Kelinga-Bozo-Dorf, in dem ich – bis heute das einzige Mal in Afrika – nicht den geringsten Hauch von Gastfreundlichkeit erfuhr. Ich erhielt nicht ein Reiskorn ohne Bezahlung[21]. Gewiß, es ging diesem Dorf Myeru immer noch wesentlich besser als allen Nachbardörfern. Noch immer sah man, um wieviel besser Bozo als benachbarte Bambara oder Fulbe ernährt und gekleidet waren. Aber Völker in der Krise vergleichen sich kaum mit anderen, sondern nur mit ihren früheren Erwartungshaltungen. Verglichen damit, empfanden sich die Kelinga-Bozo plötzlich als bemitleidenswert arm. Wie sollten sie da noch teilen können? Diese Reaktion erinnerte mich deutlich an die Entwicklungen der letzten Jahre in Westeuropa. Konnte der Hinweis auf den relativen Reichtum Österreichs und die gleichzeitige Armut ehemaliger Ostblockländer die zunehmende Ablehnung von Zuwanderern und Zuwanderung in irgendeiner Weise abschwächen? Wer seine Zukunftschancen bedroht sieht, nimmt nicht Menschen anderer Gesellschaften zum Vergleich, sondern innergesellschaftliche Maßstäbe. Verluste werden nach der Loss Aversion Theorie doppelt so stark empfunden wie Gewinne. Daher haben wir auch bei einer expandierenden Wirtschaft weniger Probleme, Zuwanderer bei uns aufzunehmen und den Zugewinn mit ihnen zu teilen, als bei einer stagnierenden Wirtschaft, bei der es um das „Eingemachte“ geht.

Ich sehe die Unterschiede auch nicht im Gemeinschaftswesen und im Streben nach individueller Anerkennung: Aus einer ländlichen Familie und einem Gastronomiebetrieb mit vielbeschäftigten Eltern kommend, genoß ich die Gespräche in großen Gruppen bei den Mahlzeiten und anderen Tagesaktivitäten. Es war herrlich für mich, unter dem offenen Sternenhimmel mit afrikanischen Freunden über Gott und die Welt zu philosophieren. Ich liebte diese stets optimistische Stimmung, den Mangel an Gehässigkeit, die nach außen getragene Harmonie. Sie schienen alles zu teilen, was sie besaßen und durch diesen Mangel an Egoismus friedvoller und glücklicher zu leben. Je besser ich lokale Sprachen verstand, um so deutlicher wurden für mich innergesellschaftliche Konflikte. Ich lernte, z.B. bei Forschungen über Geheimbünde und deren Erziehungsmechanismen in Mali, viel über die strukturelle Erziehung zum Mißtrauen Fremden gegenüber oder daß man Frauen nur begrenzt Vertrauen schenken sollte. Ich erfuhr bei Entwicklungsforschungen, daß 90% der Jüngeren eines Dorfes befürchten, daß Ältere im Dorf, die ihre beherrschende Stellung bedroht sehen, mit Schwarzer Magie die Felder der Jüngeren zerstören könnten und daß Jüngere sehr häufig versuchten, Einkünfte aus Wanderarbeit vor dem sie fordernden Vater zu verschleiern. So scheinen z.B. die Mütter zumindest bei verschiedenen Völkern die Funktion von Sparbüchsen zu besitzen, denen die Jungen einen Teil des verdienten Geldes geben, den sie nicht mit den anderen teilen wollen. Die Mutter ist die absolute Vertrauensperson, die niemandem von den vorhandenen Mitteln berichten wird. Dadurch schützt man die eigenen Mittel vor den Notfällen der anderen. In ähnlicher Weise kann man diese schützen, wenn man mit ihnen schnell nicht mehr aufteilbare Fakten schafft, wie z.B. Wellblechdächer oder große Kofferradios.

1978 lebte ich in einem Maasaidorf in Kenia. Meine Gastfamilie hatte im Zuge der Dürrekatastrophe 1977 alle Rinder verloren und litt sehr darunter. Maasai ohne Rinder empfinden sich oft als Menschen zweiter Klasse. Ich wollte mich für ihre Gastfreundschaft bedanken und sammelte bei den Angestellten der österreichischen Botschaft und der Handelsdelegation Geld für den Grundstock einer neuen Herde. Zu dieser Zeit erhielt mein Gastgeber einen limitierten Fruchtgenuß seitens seines Bruders (3x wöchentlich etwas Milch). Sein Bruder, gleichzeitig der Dorfchef, war der einzige Maasai im Dorf, der noch über eine ansehnliche Rinderherde verfügte. Ich war mir sicher, daß mir niemand Rinder zu einem günstigeren Preis verkaufen würde als der Bruder meines Gastgebers. Daher ging ich mit meinem Gastgeber zu ihm und fragte ihn, welche Rinder er mir für den Geldbetrag für seinen Bruder verkaufen würde. Ich wurde schwer enttäuscht. Selbst ich als Rinderlaie erkannte sofort, daß er seinem Bruder nur alte, wertlose, unfruchtbare und extrem überteuerte Rinder  geben wollte, die keineswegs zum Aufbau einer Rinderherde geeignet waren. Mein Gastgeber war wirtschaftlich von seinem Bruder abhängig und hätte zugestimmt, wie ich seinen traurigen Augen entnahm. Ich bemühte mein diplomatisches Geschick und lehnte das Angebot höflich ab. Der Dorfchef hatte offensichtlich keinerlei Interesse, seinen Bruder von sich unabhängig zu machen und hielt wenig vom so oft zitierten entwicklungspolitischen Spruch „Gib Hungernden keine Fische, sondern eine Angel“. Er hätte bereits in der Vergangenheit seinem Bruder Rinder geben können, um diesen eigenständig überleben zu lassen. Durch den Fruchtgenuß der Milch sicherte er sich die Solidarität seines Bruders bei Abstimmungen im Ältestenrat. Er wollte die Dominanz über seinen Bruder beibehalten und war dafür sogar bereit, ihn zu betrügen. Ich lernte aus diesen und ähnlichen Erfahrungen, daß der Wunsch nach individueller Bedeutung abseits der Gruppe auch in Afrika große Bedeutung hat. Vielleicht fehlten oft einfach die Möglichkeiten zum Ausleben des individuellen Egoismus (durch die teilweise erzwungenen Solidaritätsnetze, zu denen es keine Alternativen gibt). Verschiedene Staatschefs und Eliten Afrikas schienen keinerlei Barrieren gegen Bereicherung zu zeigen. Geschah dies auch wegen langjähriger Unterdrückung des Wunsches nach individueller Bedeutung und nach eigenem Besitz? Möglicherweise liegt auch darin einer der Gründe für die häufige Akkumulation von Statussymbolen von Menschen in verantwortungsvollen Positionen (wie Luxusfahrzeuge, persönliche Flugzeuge der Präsidenten, europäische Designer-Anzüge usw.), die bei gleichzeitigem geringen Nutzen die lokale Gemeinschaft oft finanziell ruinieren.

Bei einer Rückkehr in eines meiner Lieblingsdörfer in Mali wollte ich „meiner“ Großfamilie ein besonders schönes und wertvolles Geschenk machen. Ich brachte ihnen eine kleine Solaranlage, mit welcher die Batterien für die Kofferradios und die Taschenlampen aufgeladen werden konnten. Dadurch konnte sich die Familie jährlich viel Geld ersparen. Es war für mich eine relativ große Investition, daher war ich besonders enttäuscht, als sich die Menschen fast ausschließlich um den kleinen Taschenrechner um 1,5 € drängten, den ich einem Freund mitgebracht hatte und um die wohlduftenden Seifen für die Frauen. Die Solaranlage blieb weitgehend unbeachtet. Diese Geschenke werteten die Empfänger individuell auf. Enttäuschte Gesichter blieben bei mehreren Erwachsenen zurück, die sich ebenfalls individuelle Geschenke erhofft hatten. Ich habe in Afrika immer wieder die Erfahrung gemacht, daß Personen enttäuscht waren, wenn meine Geschenke zu stark an die Gemeinschaft ausgerichtet waren.

Ähnlich klischeebeladen sind die Vorstellungen über den Respekt vor dem Alter als typischen und ewigwährenden Unterschied zwischen Afrikanern und Europäern. In einem kleinen Dorf aufgewachsen, habe ich eine sehr ähnliche Erziehung kennengelernt, die bis zur körperlichen Züchtigung bei mangelndem Respekt Älteren gegenüber ging. Es war selbstverständlich, Ältere zuerst zu grüßen, ihnen seinen Sitzplatz anzubieten, zu warten, bis man gefragt wird, nicht zu widersprechen usw. Dies beschreibt zu einem großen Teil auch die Situation im ländlichen Afrika. Man schreibt oft sehr klischeehaft über das angenommene harmonische Verhältnis zwischen Alt und Jung in Afrika. Doch können spezifisch die Jungen und die Frauen ihren Frust bei Unzufriedenheit mit den Anordnungen der Alten nicht direkt äußern. Bei eigenen Umfragen in Dörfern Malis 1991 meinte die Hälfte der Befragten (2/3 der unter 25jährigen), daß die Alten nicht immer recht hätten; gleichzeitig meinten 70 von 71 Befragten, daß man ihnen trotzdem gehorchen solle. Das schafft Frust, weil man Sinnlosem und teilweise Willkürlichem gehorchen muß. Daher schufen viele Gesellschaften Frustableitungsmöglichkeiten wie z.B. Geheimbundtreffen, bei welchen im Vollrausch einige Tage lang auch Älteren gegenüber ungestraft Ärger und Frust ausgedrückt werden darf, ohne daß diese sich rächen dürfen[22]. Oft wandern Jugendliche in Afrikas Städte ab, in denen sie sich mehr Freiheit und Anerkennung erwarten. Die Enge des Landlebens ist für viele jüngere Afrikaner genauso zum Problem geworden wie für viele Europäer. Sie ziehen in die Städte, deren Überlebenskampf zunehmend härter wird und in denen das Wissen der Alten durch den technologischen Wandel oft schnell an Nutzen verliert. Damit sinkt auch die Achtung vor den Alten und es kommt selten, aber immer häufiger zu offenen Konflikten zwischen Alt und Jung: Jüngere, die Ältere auf der Straße beleidigen; die nicht mehr aufstehen, sie nicht mehr grüßen. Es fehlen in der Anonymität der Großstadt zunehmend die soziale Kontrolle, die Anreize und die reale Sanktionsmacht der Alten. In den rapide wachsenden Städten Afrikas europäisiert sich zunehmend die Beziehung zwischen Alt und Jung, so trist dies sein mag.

Oft gibt die Sprache deutliche Hinweise auf Probleme, die selten direkt zum Ausdruck gebracht werden würden. Natürlich gibt es in polygamen Ehen enorme Eifersucht zwischen den verschiedenen Ehefrauen (und ihren Kindern). In der Bambara-Sprache Malis werden Kinder vom gleichen Vater und der gleichen Mutter baden genannt (w. Mutterkinder), Kinder vom gleichen Vater, aber verschiedenen Müttern faden (w. Vaterkinder). Mutterkind wird gleichzeitig für Personen verwendet, mit denen man sich blind versteht; Vaterkind (faden) bedeutet gleichzeitig auch Rivale[23].

Die kulturell bedingte Nichtartikulation des Frusts großer Bevölkerungsteile und der daraus folgende Spannungsaufbau könnten neben der zunehmenden Misere dazu beitragen, daß sich Konflikte zwischen afrikanischen Völkern oft relativ schnell entfachen.

Ich verlor auch das Vorurteil, daß Afrikaner als Bürger von Vielvölkerstaaten weniger Vorurteile anderen Völkern gegenüber hätten. Die Anzahl der Völker eines Landes gibt keinerlei Auskunft über zwischenethnische Toleranz. Vorbildliches Zusammenleben in multiethnischen Staaten zeigt sich zuallererst in gleichen politischen und wirtschaftlichen Chancen. In wie vielen afrikanischen Ländern kommt es zu einer breiten Verteilung wirtschaftlicher wie politischer Macht? Zu häufig werden ethnische Vorurteile zu politischen Zwecken eingesetzt, vom Simbabwe Mugabes bis zum Ruanda des Genozids.

Die nomadischen Twa in Ruanda oder Pygmäenvölker in anderen afrikanischen Ländern werden mit einer Reihe von Vorurteilen bedacht, die strukturell unseren eigenen Vorurteilen gegenüber Roma und Sinti ähneln: Vorwürfe des Lotterlebens, der mangelnden Leistungswilligkeit, geringere Intelligenz und mangelnde Vertrauenswürdigkeit. Die seßhaften Völker des Sahel entwickeln oft enormes Mißtrauen gegenüber dem nomadischen Teil der Fulbe, einem rinderzüchtenden Volk. Wer migriert, ist weniger leicht zu kontrollieren und wird dementsprechend eher mit Bedrohungsszenarien verbunden. Eine Kuh ist verschwunden, eine Sache wurde gestohlen? Gut möglich, daß es der Nomade war.

            Auch der sogenannte Tribalismus ist dem gelernten Österreicher nicht fremd. Der Postenschacher nach Parteibüchern ist in Österreich nicht durch interkulturelles Lernen von Afrikanern erklärbar. Er ist ähnlich wie in Afrika eine Günstlingswirtschaft, die entsteht, wenn der Staatswirtschaft eine zu schwache Privatwirtschaft gegenübersteht, so wie es in Österreich bis vor wenigen Jahren der Fall war. Dann bilden sich engere Kreise durch das Mißverhältnis von Angebot und Nachfrage. Höhere Staatsdiener können Gönnermentalität entwickeln und selbstverständliche Leistungen als Gnadenakt und nicht  mehr als ethische Pflicht betrachten. Das sogenannte Stammesdenken mag sich in afrikanischen Städten durch Ansiedlung in den gleichen Vierteln zeigen, bei den Bauern im Landrestaurant meiner Eltern durch die Wahl verschiedener Tische zum Kartenspielen, wenn sie verschiedenen Parteien angehörten.

            Als ich vor Jahren noch über mehr Zeit verfügte, wollte ich ein humoristisches Buch schreiben. Dieses sollte scherzhaft beweisen, daß die Deutschen von den Afrikanern abstammen. Als Beweise wollte ich die gedankliche Ähnlichkeit vieler Sprichwörter, Redewendungen und sprachlichen Symbolismen bringen. Auf dem Titelbild wollte ich Adolf Hitler abbilden, der angesichts dieser Vorstellungen im Grabe rotiert (übrigens gibt es auch afrikanische Sprachen mit der gleichen doppelten Bedeutung dieser Redewendung). Wer sich mit afrikanischen Sprachen beschäftigt, wird oft von der ähnlichen Sprachlogik überrascht sein, wie z.B. bei der Bildung von Begriffen und Ideen: „ins Wasser fallen“, „Dickschädel“, „Großmaul“, Drahtesel (Fahrrad ->Eisenpferd) sind nur einige und fast beliebig erweiterbare Beispiele.

Sogar bei den in Witzen ausgedrückten ethnischen oder regionalen Vorurteilen zeigen sich häufig erstaunliche Parallelen. Die Schwedinnen (Image der sexuellen Freizügigkeit) sind in Mali die Songhai-Frauen; den Burgenländern (Image der Begriffsstutzigen) entsprechen die Bobo; den Schotten (Image des Geizes) entsprechen die Suraka usw. Ähnlich wie in Österreich kursieren zahlreiche Witze, in denen diese Klischees eingebettet sind, wie z.B.:

Ein Suraka läuft weinend zu seinem besten Freund, der im Sterben liegt. „Bitte stirb nicht!“. Der Freund ist sichtlich gerührt über diese Liebe und tröstet ihn: „Schau, das Leben wird weitergehen.“ Worauf der Suraka antwortet: „Aber Du bist mir doch noch viel Geld schuldig!“

Man muß schon mit sehr geschlossenen Augen durch die afrikanischen Welten gehen, um die Verschiedenheiten zu Europäern stärker als die Gemeinsamkeiten wahrzunehmen. Ich bin überzeugt, daß die alten österreichischen Bauern, die ich in meiner Kindheit kennenlernte (nicht mehr die heutigen Nebenerwerbsbauern), mehr mit afrikanischen Bauern gemeinsam haben, als beide mit den Städtern in ihren Ländern. Die Umgebung prägt den Menschen sehr viel mehr als die Herkunft. Das gibt Hoffnung. Man sollte nicht in einem Augenblick, in dem wir dem biologischen Rassismus definitiv abschwören, den kulturellen Rassismus durch Mystifizierung oder Verteufelung unnötig verstärken. Wir sind nicht gleich, aber uns trennen keine Kategorien, sondern nur unterschiedliche Häufigkeiten von Verhaltensformen.


[1] Version 9.3., Oktober 2000.

[2] Die Zeit, 10.8.2000, S.5.

[3] Die Vollversion des Artikels (ca. 30 Seiten) kann auf http://www.afrika-wien.at/ heruntergeladen werden.

[4]        Jean Boulet, Magoumaz, pays mafa; Monographie von ORSTOM, zitiert in Giri 1986:188

[5]        In Taiwan studierten 1985 767 pro 100.000 Menschen Maschinenbau, in 13 Ländern Afrikas mit verfügbaren Statistiken lag der Schnitt bei 9/100.000 (Zymelman 1990:27).

[6] Besonders in Erinnerung blieb mir ein Gespräch in einem kleinen Mauka-Dorf 1982 im Nordwesten der Côte-d’Ivoire. Mein Gesprächspartner antwortete nach dem Befinden seines Vaters zuerst, daß es diesem gut gehe und machte dann die Einschränkung, daß dieser leider zwei Jahre zuvor verschieden sei.

[7] Ein wenig vereinfacht, da besonders gegenüber „fahrenden Völkern“ wie z.B. Pygmäen oft große Vorurteile bestehen.

[8] Die Tabuisierung des starren Blicks in die Augen hängt möglicherweise auch mit Ängsten vor Verhexung zusammen.  In der Bambara-Sprache Malis bedeutet z.B. nyè-nyini (w. jemandes Auge suchen) verhexen, nyè-don (w. in jemandes Auge hineingehen) jemandem nahetreten.

[9] Bewußt vereinfacht gewählter Begriff für diese Diskussion.

[10] Die hier getätigten Analysen basieren auf zwischen 1991 und 1993 aufgenommenen Daten einer Studie, an der u.a. auch Gabriele Slezak, Bettina Friszlovics und Helene Trauner mitwirkten.

[11] Befragungen in Parks und anderen Orten im 1., 9., 15. und 17. Bezirk von Sept.-Nov. 2000

[12] In Anzügen abgebildete Afrikaner wurden öfters für Afro-Amerikaner gehalten.

[13] So geschehen z.B. bei zwei aufeinanderfolgenden Vorträgen beim Symposium Schwarz und Weiß im März 1999 in Wien.

[14] In Kumpfmüller 2000:153.

[15] Nachweisbar u.a. in den afrikanischen Sprachen Bambara, Mauka, Kelinga, Hausa, Nordsamo. Während Schwarz also den Mangel an Licht und Transparenz bezeichnet, steht Weiß für Helligkeit und Offenheit. Vgl. Bambara kunfin (Schwarzkopf=Analphabet) mit kunjè (Weißkopf=brillanter Denker); kònònafin (Im-Bauch-Schwarzer=Heuchler) mit kònònajè (Im-Bauch-Weißer=Offenherziger).

[16] Ich kenne kaum eine afrikanische Sprache, in welcher sich nicht farbbezogene Unterscheidungen zwischen Afrikanern und Europäern finden. Europäer werden dementsprechend als Weiß-Haut oder Weiß-Schale, Afrikaner als Schwarz-Haut bzw. Schwarzschale bezeichnet, z.B. Nordsamo sèèfu: Europäer, Weißer; sèeci: Afrikaner, Schwarzer. Als ich bei den Maasai lebte, wurde ich selbstverständlch als Ole Parmuat Onyuke (der weiße Parmuat) bezeichnet.

[17] U.S. Census Bureau Survey, Mai 1995.

[18] Dazu wurde die Differenz der Beurteilungen von Reisenden und Nichtreisenden durch den (Ausgangs-)Wert der Nichtreisenden dividiert, von diesem eine 1 abgezogen und mit 100 multipliziert. Dadurch erhielten wir eine in Prozent ausdrückbare Verbesserung bzw. Verschlechterung der integrationsspezifischen Einstellungen.

[19] In vielen afrikanischen Gegenden gibt es einen ausgesprochenen Mangel an Steinen, die für haltbarere Gebäude verwendet hätte werden können.

[20] N’Diaye (1970:441)

[21] Ich versuche in afrikanischen Dörfern stets,  meinen Gastgebern wirtschaftlich keinesfalls zur Last zu fallen. Da oft verbal die Bezahlung von Mieten abgelehnt wird, lege ich mir je nach Gegend und Volk verschiedene Schlüssel zurecht, um meine „Schuld“ mit Gastgeschenken zu begleichen. Ich lege vor dem Aufenthalt einen bestimmten Tagessatz fest, um den ich meiner Gastfamilie dringend benötigte Utensilien kaufe, die sie benötigt, wünscht und selbst nicht herstellen kann (Kleidung, Schulmaterialen, Fleisch, Medikamente, Düngemittel etc.).

[22] Siehe E. Ebermann: Gundofen. Die geheimen Dinge. Fetische und Geheimbünde bei den Bambara in Mali

[23] Siehe Ebermann 19das N -Nwort

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