Das fette Fleisch, der Geheimbundchef und der Tod

Wir schreiben das Jahr 1992. Ich lebe wieder seit einigen Monaten im kleinen Dorf Nkorongoji im Bélégougou Malis. Es ist eine bäuerliche Bevölkerung, unter der ich mich extrem wohl fühle. Ich liebe die intensiven Gespräche mit meinen Freunden über Gott und die Welt, welche wir meist unter einer riesigen und toll schattenspendenden Schirmakazie führen. Sie gehören zum Volk der Bambara, einem der afrikanischen Völker, welche häufig – unter anderem mit großen Königreichen und ihrer Kultur wie z.B. weltberühmten Musikern – Geschichte schrieben. Ein Volk, das es gewohnt ist, in großen Regionen zu leben und zu denken, ein kosmopolitisches Volk… Wie viele Kulturen in Afrika ist die Gesellschaft prinzipiell altershierarchisch strukturiert, d.h. dass die Alten das Sagen haben. Aber durch individuelle Weisheit und Lebenserfahrungen kann man das System durchbrechen: „Der junge Mensch, welcher hundert Siedlungen bereist hat, kann sich gleichberechtigt mit einem Hundertjährigen zusammensetzen, um sich zu unterhalten.“ Und so – ganz entgegen den üblichen Klischees über afrikanische Kulturen und Menschen – reisen die Menschen gerne in die Fremde, weil es sie stärker und reifer macht. Ich fühle mich zuhause bei meinen Freunden.

Es gibt bei den Bambara ein System von Geheimbünden, eine Art traditionelles Schul- und Sozialisierungssystem. Ich hatte die Chance, während meiner Aufenthalte viel über diese Geheimbünde zu erfahren und so wurde auch der Leiter des obersten Geheimbundes Komo, Cèbilen Kane, ein lieber Freund von mir. Cèbilen war ein liebenswürdiger weiser alter Herr, nach Eigenangaben an die 80 Jahre alt, was ein stolzes Alter wäre. Ich sehe ihn noch heute vor mir, mit seinem Grinsen, wenn er genussvoll die Colanüsse kaute, die ich ihm als Gastgeschenk häufig mitbrachte. An diesem Tag hatte Cèbilen mich zum Abendessen eingeladen, ich freute mich darauf. Ich kam zu seiner Hütte, er saß bereits vor ihr und lud mich ein, mich zu setzen. Dann ersuchte er seine Frau, das Essen zu bringen. Es war offensichtlich ein Festmahl. Nkorongoji ist ein eher ärmerer Ort, an dem die Menschen es sich längst nicht leisten können, täglich Fleisch zu essen. Cèbilen hatte jedoch extra für mich eine Ziege geschlachtet, die nun fein zerteilt in einem Topf vor uns stand. Eine große Ehre für mich …

Es kam noch besser …. je nachdem, wie man besser deutet… Cèbilen nahm ein Stück Fleisch aus dem Topf und schob es in seinen Mund. Und dann widerfuhr mir die größte denkbare Ehre – die ich eher nicht habe hätten wollen – Cèbilen biss das magere Fleisch ab, nahm den fetten Teil aus seinem Mund und schob ihn in meinen. Cèbilen war ein unendlich liebenswürdiger Mensch, aber schon etwas alt, etwas Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln … Diese Geste war eine ungemein herzliche und ehrvolle, wenn auch nicht unbedingt die appetitlichste … Dazu kam, dass ich Fett hasse, ich esse niemals fettes Fleisch, da mir davor graut. Man muss dabei berücksichtigen, dass in ärmeren Gegenden das Fett einen ganz anderen Status als in reicheren Gegenden hat: es ist ein Zeichen von Wohlstand und höherem Status, wenn man wohlbeleibter, auch durch Fettkonsum ist. Mir also das fette Fleisch anzubieten, war ein Opfer für meinen Gastgeber. Es gab kein Entkommen, ein Zurückweisen war undenkbar…

Nun saß ich da, das fette Stück Fleisch in meinem Mund, meinen herzlichen und grinsenden Gastgeber mit dem Speichel, der ihm aus den Mundwinkeln floß, unmittelbar vor mir. Ich biss in den sauren Apfel – und auch wenn ich Brechreiz verspürte – ich schluckte das Fleisch runter.

Ich entwickelte als Folge aus diesem Erlebnis eine Taktik, wie ich es vermeiden könnte, nochmals diese Ehre annehmen zu müssen. Ich deklarierte fettes Fleisch zu meinem ‚Tabu‘. Fast alle Afrikaner haben Tabus, Handlungs- und Konsumverbote und so wurde fettes Fleisch in Hinkunft zu meinem Tabu. „Fettes Fleisch, nein, danke! o ye n tàna ye ‚Das ist mein Tabu.‘

…….

Einige Monate danach verstarb Cèbilen. Auch wenn er schon sehr alt gewesen war, so war das dennoch ein schwerer Schlag für das Dorf und den Geheimbund. der ihn

Da ich mit Cèbilen befreundet war, wurde auch ich zum Begräbnis eingeladen. Wir standen um den Leichnam herum, fassungslos, dass Cèbilen von uns gegangen war.

Immer mehr Menschen kamen, auch aus den Nachbardörfern. Und mit ihnen kamen auch die Jungen ..

Scherze über den Verstorbenen

Und mit den Jungen kam einer der wenigen Kulturschocks, die ich in Afrika jemals erlebte. Ich wurde selbst in einem sehr kleinen Dorf in Niederösterreich geboren und hatte vielleicht deshalb in bäuerlichen Gebieten Afrikas nur selten das Gefühl, dass mich etwas wirklich extrem überraschte. Zu ähnlich erschienen mir z.B. die unterschiedlichen Geschlechterrollen wie die komplett unterschiedliche Bewertung männlicher und weiblicher Sexualität; die Solidarität innerhalb der bäuerlichen Gemeinschaft bei gleichzeitiger Eifersucht, wenn einzelne besonderern Erfolg haben und diesen auch zur Schau stellen; die soziale Kontrolle über die Meinung der Dorfbevölkerung etc. 

Aber die Reaktion der Jungen, der Enkel, war zu diesem Zeitpunkt wirklich überraschend und ich lernte sie erst später wirklich verstehen. Während wir Älteren traurig herumstanden und über den Verstorbenen sprachen, machten sich die Jungen über den Verstorbenen lustig. „Na endlich ist der Taugenichts weg!“ und ähnliches. Ich war geschockt, dass man von einer äußerst verdienstvollen Persönlichkeit, noch dazu kurz nach ihrem Ableben, so sprechen konnte. 

Ich verstand erst später, dass die sogenannten Scherzbeziehungen auch über den Tod hinaus wirksam sind. Träger bestimmter Familiennamen wie Kone oder Traore dürfen sich übereinander lustig machen, egal ob sie einander kennen oder nicht; Angehörige verschiedener Völker wie z.B. die Fulbe und die Bozo, dürfen dies gegenseitig genauso. Und auch die Enkelkinder haben eine ähnliche Scherzbeziehung zu ihrem Großvater, was oft zu ähnlichen Scherzen führt. 

Aber warum scherzten die Enkel über den Toten, statt einfach zu trauern? 

Dazu muss man verstehen, dass bei den Bambara wie bei vielen anderen afrikanischen Kulturen die menschliche Existenz nicht zweigeteilt ist, in ein Leben vor und eines nach dem Tode, sondern dreigeteilt: ein physisch-psychisches Leben vor dem leiblichen Tod; nach dem leiblichen Tod eine Existenz als Ahne, solange auf Erden noch jemand an einen denkt. In dieser Phase sollen sich die Verstorbenen noch sehr für die Lebenden einsetzen, als Vermittler zwischen Gott und den Menschen, sie gelten vielerorts auch noch oft als allgegenwärtig und lebendig. Isst man etwas, wird ein Teil der Nahrung auf den Boden gestellt gestellt, damit sie mitessen können, ein Teil des Wassers wird auf den Boden geschüttet, damit der Ahne mittrinken kann. Die dritte Stufe ist der soziale Tod, wenn niemand mehr an den Verstorbenen denkt. Dann verliert er seine Bindung an die Gesellschaft. 

Für die Enkel war ihr Großvater daher noch nicht wirklich tot und daher die Scherzbeziehung auch noch möglich. 

P.S. Dieses Weiterleben der Verstorbenen nach dem leiblichen Tod wird kaum irgendwo so gut ausgedrückt wie im wunderschönen Gedicht von Birago Diop: ‚Der Hauch der Ahnen‚.

Das Begraben des Leichnams
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