Überschätzung der Weißen – mein ‚Einsatz‘ als Lebensretter

September 1981. Ich liege morgens in meiner Hängematte im Dorf Ganhoué im Nordwesten der Côte-d’Ivoire und denke über ein linguistisches Problem nach. Ich lebe seit fast einem Jahr in diesem Dorf, um meine Dissertation, eine Grammatik der Mauka-Sprache, zu verfassen.

Dorf Ganhoué im Nordwesten der Côte-d'Ivoire

Es ist eine sehr gastfreundliche Bevölkerung. Meine Gastgeber, in deren Zuhause ich wohne, verwöhnen mich nach Strich und Faden. Ich werde Lamini genannt, Lamini Kone, wobei Lamini der Vorname ist und Kone der Familienname. Warum? Als ich auf Einladung eines afrikanischen Freundes ins Dorf kam, fragten mich die Einheimischen, wie ich heiße, worauf ich natürlich ‚Erwin Ebermann‘ antwortete. Nun gibt es in der Maukasprache keine unmittelbar aufeinanderfolgenden Konsonanten wie das /rw/ in Erwin oder das /rm/ in Ebermann, weshalb die Aussprache schwer erschien. Daher agierte man pragmatisch: „Ein Familienmitglied von uns hat uns verlassen, dieses hieß Lamini Kone und du bist von jetzt an unser neuer ‚Lamini Kone‘.

Familie in Ganhoué

Ich liege also da, in meine Tonbänder und schriftlichen Analysen vertieft, als plötzlich Ousmane, der Schneider des Ortes, laut ruft: „Lamini, Lamini!“ Ich dreh mich um: „Lamini, sàáò ye n d’yeeη kiη! η yáa nà ní à lé!“ „Lamini, eine Schlange hat meine Tochter gebissen! Ich bringe sie Dir!“

Ich traue meinen Ohren nicht. Ich bin ein 27jähriger Student und habe null Erfahrungen mit Schlangenbissen. Ich habe keinerlei medizinische Ausbildung und weiss nur, dass es in dieser Gegend einige der gefährlichsten Giftschlangen der Welt gibt, wie z.B. die Puffotter, die schwarze und die grüne Mamba, die Speikobra und andere. 

 

Junge Dorfbewohner von Ganhoué mit einer Puffotter, die sie erlegt hatten.

„Nein, ich kenne mich damit nicht aus! Ich bin kein Mediziner!“ protestiere ich. Mein Protest ist absolut wirkungslos: „Du bist ein Europäer, du kannst das.“ Ich protestiere nochmals: „In 20 km Entfernung gibt es in Touba ein Spital, da ist ein Arzt, der den Biss behandeln kann.“ Der Einwand nützt mir absolut nicht. Musa erwidert: „Aber der ist ein Baoulé (Anm. Angehöriger eines Volks des Südens der Côte-d’Ivoire), die können nichts! Ihr Weißen hingegen wisst so viel. Ich bringe Dir meine Tochter.“

So unglaublich es klingt, mein Widerstand war zwecklos. Ich überlege fieberhaft, was ich tun kann. Das Spital ist zwar nur 20km weg, aber es gibt normalerweise kein schnelles Transportmittel in der Ortschaft wie auch nur ein – zu diesem Zeitpunkt nicht vorhandenes – Moped, sondern einmal täglich einen Bus, der durchfährt. Falls ich mit Ousmane zu lange diskutiere, könnte inzwischen möglicherweise sein Kind sterben. Ich fühle mich unter einem fürchterlichen Druck, meine Hilfsbereitschaft zu zeigen, ohne aber der Aufgabe in irgendeiner Weise gewachsen zu sein.

Ich laufe schnell in meine Unterkunft und hole mein dickes Buch über Tropenmedizin, das ich bei meinen ersten Afrikareisen immer mithatte, sowie ein Schlangenbissset, welches ich vor meiner Abreise gekauft hatte. Nach der Beschreibung sollte man zwischen den Bissspuren mit einem mitgelieferten Skalpell einen kleinen Einschnitt machen und mit dem dazugehörigen Sauggerät das Blut absaugen. 

Ousmane bringt das Mädchen. Schnell kommen andere Dorfbewohner, weil der Vorfall die Runde im Ort machte. 

Aisha ist geschockt, unfähig, ein Wort zu sagen. Ihr Vater erzählt mir, dass sie am Morgen vor dem Haus neben einem Holzstapel gespielt hätte und von einer Schlange gebissen worden wäre. Er wäre im Haus gewesen und wäre aufgrund des Schreis seiner Tochter rausgelaufen. Die Schlange habe er nicht gesehen.

Ich ersuche um Wasser und wasche den schmutzigen Fuß des Mädchens. Es soll am Knöchel gebissen worden sein, ich sehe jedoch keine zwei Bissspuren, die bei einem Schlangenbiss zu erwarten wären, sondern nur eine kleine Öffnung. War es vielleicht ’nur‘ ein Skorpion? Was tun? Ich habe Angst, mit dem Skalpell herumzuschneiden, aus Angst, dadurch ein Blutgefäß zu verletzen. Ich taste das Bein ab, das Mädchen zeigt mir, dass ihr Knöchel tatsächlich schmerzt. 

In meiner Unsicherheit, was ich tun könnte und Angst, etwas Katastrophales anzurichten, entscheide ich mich zuerst fürs Zuwarten. Ich ersuche eine Frau, mir ihr Kopftuch zu geben und binde damit den Fuß des Mädchens oberhalb des Knöchels ab, um den Weiterfluss des Giftes zu verhindern. Ich habe Angst, das Bein allzusehr abzuschnüren und damit das Bein dauerhaft zu beschädigen, entscheide mich aber doch für ein stärkeres Abbinden. Ich habe vor, in regelmäßigen Intervallen zu überprüfen, wie sich der Schmerz entwickelt, ob er sich ausdehnt und habe vor, bei deutlicher Verschlimmerung der Schmerzen später doch zum Skalpell zu greifen. 

Ich ersuche noch eine weitere Frau, einen starken Tee zuzubereiten, um den Kreislauf des Mädchens stabil zu halten und anzuregen. 

Um mich herum sitzen inzwischen zahlreiche Erwachsene und Kinder, alle voll beruhigt, weil sie ‚wissen‘, dass ein Europäer sich des Problems angenommen hat. Ich bin der Einzige, der nervlich absolut angeschlagen ist. Die Frau bringt den Tee, ich reiche ihn Aisha und bekomme meinen nächsten Nervenzusammenbruch. Die Frau, welche mir das Kopftuch zum Abbinden des Fußes des Mädchens gegeben hatte, hatte – als ich einen Augenblick nicht aufpasste – ihr Kopftuch wieder abgenommen und stattdessen ein Geschirrtuch locker um die Bissstelle gehängt. Ich habe keine Ahnung, vor wie vielen Minuten das geschah. Das Gift konnte also schon einige Zeit durch den Körper geflossen sein. 

Von Schlange gebissenes Mädchen

Mit rotem Kopf und einem Puls von wohl an die 300 band ich das Geschirrtuch wieder fester um das Bein. Nachdem mein Puls wieder auf einen einigermaßen erträglichen Wert von 150 gesunken war, kontrollierte ich wieder den Verlauf der Schmerzen, sie hatten nicht zugenommen, sondern blieben stabil, und weiteten sich nicht auf den Körper oberhalb der Abbindung aus. Ich entschied mich, noch länger zuzuwarten.

Der Zustand des Mädchens blieb stabil, nach wie vor war sie unfähig, über den Schlangenbiss zu sprechen und saß geschockt da. So verging die Zeit … Nach vielleicht einer weiteren Stunde, das Zeitgefühl fehlte mir gänzlich, erzählte Ousmane so nebenbei, dass sich seine Tochter Aisha gestern den Fuß beim Spielen verletzt habe, aber es sei über Nacht deutlich besser geworden…

Nun begann ich zu ahnen, was tatsächlich geschehen sein könnte: Die Tochter meinte am Morgen, dass ihr Fuß komplett in Ordnung sei, lief aus dem Haus, um davor zu spielen und verknöcherte sich wieder, in der Nähe eines Holzstapels, hinter dem sich manchmal Schlangen verstecken. Die Schmerzen in ihrem Knöchel deuteten sie und vor allem ihr Vater daher als mutmaßlichen Schlangenbiss.

(Bild: Das neben meiner Tür nistende Huhn wurde dort von einer Speikobra getötet (siehe die Bissspuren), die lokale Angst vor Schlangen ist daher durchaus berechtigt).

So dürfte es wohl tatsächlich abgelaufen sein, nach zwei weiteren Stunden war der Schmerz deutlich zurückgegangen, weshalb ich die Binde wieder abnahm. Das Mädchen war ‚gerettet‘.

Dieser Vorfall  lehrte mich jedenfalls zwei wesentliche Dinge: 

  • das extreme Misstrauen zwischen verschiedenen Kulturen der Côte-d’Ivoire, besonders zwischen denen des – meist islamischen – Nordens und denen des meist christlichen Südens;
  • die extreme Überschätzung der Weißen in dieser und auch einer Reihe anderer afrikanischer Kulturen, was durchaus oft eine bessere eigenständige Entwicklung beeinträchtigte.  
Es war nicht zuletzt aufgrund dieses Erlebnisses, dass mich der Ausbruch des Bürgerkriegs an der Côte-d’Ivoire zwischen 2002 und 2007 deutlich weniger überraschte als etwa die Destabilisierung Malis ab 2012.

Etwas später, im Juli oder August 1981, fand ein großes Kulturfestival der Mauka in Ganhoué statt, bei welchem die Jüngeren den Älteren mithilfe von Theater und Vorträgen Probleme näherbringen wollten (wie Zwangsverheiratung, FGM), die sie nicht offen ansprechen konnten, da es sich um eine starr altershierarchisch strukturierte Gesellschaft handelte. Ich benützte die Gelegenheit, ein kleines Theaterstück in der Mauka-Sprache aufzuführen, welches die Überschätzung der Weißen zeigen sollte und auf den oben geschilderten Ereignissen basierte.

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